Besucher, die es in die Abgeschiedenheit des Nordens verschlagen hat, überrascht es meist nicht sonderlich, dass ihnen die barbarischen Einheimischen stets mit einem gewissen mitleidigen Spott begegnen, wenn sie sich über das raue Klima beschweren oder gar die unbarmherzige Kälte des nordischen Winters mit buchstäblich klappernden Zähnen beklagen. Ein wenig merkwürdig erscheint es einigen jedoch, wenn dann selbst die härtesten Krieger mit fast kindlicher Furcht im Blick vom furchtbaren Unheil des Nagwinters erzählen. Vom Hodmimforst bis zu den Eisfeldern der Khor-Ebene scheinen jeder Mann und jede Frau mit ihren ganz eigenen Schreckensgeschichten über diesen „Wahren Winter“, wie sie dieses Wetterphänomen auch nennen, aufwarten zu können. Dennoch treffen nur wenige jemals einen lebenden Augenzeugen des Nagwinters, denn man sagt, dass dieser nur selten über das Land kommt und manche Generationen ganz verschont. Aber obwohl der letzte Nagwinter vor nunmehr 93 Jahren den Norden peitschte, finden sich hier und da noch Überlebende, die von ihm berichten können. Solche Zeugen des Nagwinters werden von jedem Volk und in jeder Gemeinschaft mit Respekt behandelt, so dass jede andere Unterhaltung verstummt, wenn ein „Mirkha“ beginnt, von seinen Erlebnissen während des Wahren Winters zu erzählen. Man sagt, dass nur der den Titel Mirkha tragen darf, der wenigsten fünf Sommer vor und fünfzehn Sommer nach dem Nagwinter erlebt hat. Je älter sie werden, umso mehr gelten Mirkha als Glücksbringer und werden dementsprechend geschätzt – besonders in kleinen Dörfern, an Bord von Schiffen und bei kriegerischen Unternehmungen! Einer beliebten Legende nach gibt es außerdem unter den Mirkha manchmal besonders Auserwählte, denen der Nagwinter aus Ehrfurcht vor ihrem Überlebenswillen schließlich einen Teil der Leben schenkt, die er zuvor genommen hat. Diese sogenannten Kangmi altern angeblich nur noch halb so schnell wie gewöhnliche Menschen, weshalb sie oft ihre angestammte Heimat verlassen, um unerkannt durch die Welt zu ziehen. Unter den Pandharen und den Choár verkehrt sich diese Geschichte jedoch ins Gegenteil, denn diese Völker sehen in einem Kangmi eine Art umherstreifenden Parasiten, der vom Nagwinter sein eigenes Leben um den Preis des Lebens seiner Familie erkaufte, und seitdem die Lebenskraft aller Menschen in seiner Nähe in sich aufnimmt, um noch ein wenig länger zu leben! Fremden bleibt angesichts dieser Geschichten oft unverständlich, wie ein noch so harter Winter, derartig merkwürdige Legenden hervorbringen kann, aber meist konnten diese Besucher des Nordens auch nie den Erzählungen eines Mirkha lauschen – geschweige denn, selbst einen Nagwinter erleben.
Stimmen des Nordens
„He, ihr wolltet mir eh nie glauben, dass ich dort oben auf den Gletscherklippen meine besten Geschäfte mit „Monstern“ mache – aber glaubt das: Mein Urgroßvater begann schon diese Art Handel – und er meinte noch auf dem Sterbebett, dass die Qôr lange vor uns vom Nagwinter wussten! Jahre vorher! Und diesmal ist es genau wie der Alte erzählt hat: von Jahr zu Jahr kommen weniger von ihnen zu den Handelstreffen – und immer mehr, die doch erscheinen, sind alt oder verkrüppelt. Der Alte glaubte, die würden irgendwo einen Krieg führen, bei dem sich das Schlachtenglück gegen sie gewandt hätte – und der Nagwinter käme immer dann, wenn die Qôr von ihren Feinden überrannt worden wären… Das mag ja arg versponnen sein, aber ich hab diesmal fast sowas wie Angst in den Augen dieser weißen Riesenkerle gesehen… Morgen breche ich auf, um mich einer Karawane nach Vigiristan anzuschließen. Vielleicht sogar bis ins Imperium. Wenigstens zwei oder drei Jahre. Ich könnte wohl sogar ein paar kräftige Schwertarme für die Zeit in der Fremde gebrauchen…“
Borskan „Pelzmeister“ Ummird in einer Taverne in Faensal
Der Nagwinter, so sagen alle alten Überlieferungen, beginnt stets im gerade erwachten Frühling und bringt eine Erscheinung, die als Nebelflut bezeichnet wird. Dabei ergießen sich gewaltige weiße Schwaden eisiger Luft direkt von den Gletscherklippen der Hochebene von Khor hinab in die öde Tundra am Nordrand der Arsali. Die Pandharen behaupten sogar, dieses Ereignis auch viel weiter südlich erkennen zu können, da es große Herden wilder Mammuts und Fellhörner in tagelanger Raserei gen Süden vor sich her treibe. Die eigentlichen Schwaden der Nebelflut lösen sich jedoch ungeachtet ihres Namens stets weit vor den Gestaden des Nebelmeeres auf, so dass die Städte und Dörfer dieser Region meist keinerlei Vorwarnung vor der kommenden Katastrophe erreicht. Oft soll die erste Kältewelle diese „zivilisierten“ Gebiete rund um das Nebelmeer sogar während oder unmittelbar nach der Zeit vieler ausgelassener Frühlingsfeste erreicht haben, worin vielleicht einer der Gründe liegt, dass der Nagwinter im Volksglauben so gern als Folge einer allgemeinen „Verweichlichung“ der Menschen verstanden wird. Zumindest trifft dieser erste Frostatem des Nagwinters dann stets auf ein bereits eisfreies Nebelmeer, über dem sich – wie eigentlich in jedem Jahr – eine dicke Decke warmer Luft wie eine Vorahnung auf den ersehnten Sommer ausgebreitet hat. Was folgt, ist eine über viele Tage andauernde Serie gewaltiger Gewitter und Eisstürme, denen oft schon tausende zum Opfer fallen, und welche den überwiegenden Teil aller Schiffe – egal ob auf hoher See oder in scheinbar sicheren Häfen – in elende Wracks verwandeln. Verstummt das Sturmheulen dann doch endlich, so wissen die Menschen des Nordens, dass ihnen nur bestenfalls ein oder zwei Tage bleiben, um sich für das kommende Unheil zu wappnen: Denn dann beginnt der Schneefall. Wenigstens bis zum nächsten Vollmond schneit es im gesamten Norden ohne Pause. Dächer und Wände kollabieren unter der weißen Last. Gassen und schmale Straßen werden unpassierbar, da sie vollkommen zuschneien. Ganze Höfe und Dörfer werden zu eisigen Mausoleen und verschwinden bis über den höchsten Schornstein unter riesenhaften Schneeverwehungen. Der Vollmond bringt daraufhin endlich das, was viele im Norden als den eigentlichen Nagwinter ansehen: der sogenannte Totensommer. Woche um Woche liegt das Land unter einer wahrhaft haushohen Schneedecke, die beinahe jedes Geräusch verschluckt und Reisen unmöglich macht. Kein Blau dringt derweil durch die immer grauen Wolken, aus denen es aber auch weiter regelmäßig schneit. Wo nun nicht an den ältesten Traditionen festgehalten und somit möglichst große Vorräte angelegt wurden, da beginnt spätestens jetzt das grausame Sterben der Verhungernden. Wer von diesen noch Kraft und Entschlossenheit genug hat, der taumelt allerdings oft hinaus in die Kälte, darauf hoffend, dass sie schmerzlos erfrieren mögen, bevor sie von hungrigen Tieren bei lebendigem Leib zerrissen werden. Denn auch die Tiere leiden natürlich unter dem gnadenlosen Wüten des Nagwinters, so dass halb-legendäre Raubtiere wie Amaroq, Frostbär und Sturmtiger, die sonst nur fernab menschlicher Siedlungen und im höchsten Norden leben, von Kälte und Hunger getrieben bis an die Mauern der fünf großen Städte vordringen und manchmal sogar durch deren verlassene Straßen schleichen! Der Totensommer hat dabei nicht einmal ein genau erkennbares Ende. Er geht irgendwann schleichend in die eigentlich für den Herbst vorgesehene Zeit über und verschmilzt dann schlicht mit dem nächsten Winter, der dann oft als besonders mild empfunden wird – wenn auch nur im Vergleich mit dem, was der Nagwinter dem Norden zuvor auferlegt hatte. Man sagt, der Nagwinter stirbt schließlich so wie viele seiner Opfer: allein, unbemerkt und in lichtloser Kälte.
Schriften des Nordens
…so finden sich auch in den Texten von Ulbram von Nhastrand und Thuralv dem Stummen Belege für die Existenz der Nagschatten oder Naggreifer: Beide berichten von übergroßen dunklen Wesen, von denen keine zwei einander gleichen sollen, die mit zunehmender Länge des Nagwinters immer weiter südlich gesichtet wurden, wie sie furchtbare Verheerung an Tier und Mensch, an Haus und Baum anrichteten! Einige der Wesen sollten entfernt an deformierte Menschen erinnern, andere wieder an monströses Ungeziefer in der Größe von Hunden und Pferden…
Vhebart Jennes der III. „Überlegungen zum Wesen des Wahren Winters“
Solange der Totensommer aber noch immer wieder neuen Schnee und Frost über das Land bringt, können selbst kleinere Wälder in dieser Zeit so vollständig unter Schneewehen begraben werden, dass sogar die höchsten Gipfel nicht mehr zu sehen sind. Nur die Baumriesen des Hodmimforstes sollen bisher jedem Nagwinter widerstanden haben, der dort nicht schlimmer als ein gewöhnlicher Winter sein soll und manchen Sagen nach in der Tiefe des Waldes nicht einmal den kurzen nordischen Sommer zu vertreiben mag. Leider scheint das denen, die vor dem Nagwinter in das Herz des uralten Waldes fliehen nur selten zu helfen, denn es heißt, von all diesen hätte bis heute kein Mensch den Wald je wieder verlassen. Die einzig erfolgreiche Flucht vor dem Unheil des „Wahren Winters“ gelingt für gewöhnlich den Thraskiten: jenseits des Valgrind bedeutet sogar der Nagwinter nur einen besonders kühlen Sommer. Daher kommt der Totensommer dann auch in die Steppe von Vigiristan, in welche die Clans der Thraskiten hungrig und mit geschärften Schwertern einfallen. Viele der vigirischen Nomaden ziehen dann ihrerseits rasch weiter nach Südosten – aber das führt dann wiederum unweigerlich zu Zusammenstößen entlang der unbefestigten Grenze des alten Imperiums. Sollte allerdings bald wieder einmal ein Nagwinter anbrechen, so käme es wohl zuerst zu einem Zusammenstoß der „abtrünnigen“ Thraskiten, welche seit Jahrzehnten so trefflich von den Fleischmärkten in den milden Tälern des Valgrind profitiert haben, mit ihren kriegerischen nördlichen Verwandten – ein Schauspiel, das der Norden so noch nie gesehen hat…
Mögliche Aspekte
Kommentar verfassen