Stimmen aus dem Norden
…und doch haben wir alle gesehen, dass eine Gruppe riesiger dunkler Schatten über uns hinweg zog und die Sterne des mondlosen Nachthimmels verdeckte! Sie schienen dabei sogar eine Art Formation einzuhalten, ganz so wie es Vogelschwärme manchmal tun. Als wir dann später mit Fackeln und Laternen ausgestattet den großen Stall und die umzäunte Weide am Südrand des Dorfes erreichten, da war das Dach des Stalles schwer beschädigt und überall besudelte Blut die Schneedecke über der Weide – aber von meinem Neffen Lodalf und mehr als einem Dutzend unserer berühmten Schwarzpelzschafe fehlte ansonsten jede Spur!
Ulgerf Nonger, Ältester von Mollheim,
einem Dorf zwischen Nidbaerg und dem Amswardsee
Der Norden ist ein Land ungeheuer langer und dunkler Winter – und in den Regionen nördlich von Nidbaerg oder der heiligen Insel Balta verbirgt sich die Sonne im Winter wenigstens einen ganzen Tag lang vor den Augen von Mensch und Tier. Ja, man sagt sogar, dass im äußersten Norden der Welt, im Zentrum der Hochebene von Khor, diese dauernde Dunkelheit ein halbes Jahr lang anhält! Im Norden werden die Gebiete, in denen der Winter solche „toten Tage“ bringt auch als „Länder des wahren Winters“ bezeichnet und man sagt, dass dort nur Branntwein und große Geschichten die Herzen der Menschen davor bewahren, kalt und düster zu werden. Diese langen und dunklen Zeiten bringen aber vor allem Angst und Furcht mit sich – nicht nur vor Hunger und Frost, sondern auch vor den unsichtbaren Dingen, die im Grauschwarz der Winternächte umher schleichen mögen. Zu den bekanntesten und berüchtigsten dieser Wesen gehören die sogenannten Hungerschatten. Jeder im Norden kennt Geschichten und Gerüchte über Hungerschatten und angebliche Begegnungen mit ihnen, aber zumindest die meisten Einwohner der Fünf Städte halten diese bloß für Ammenmärchen, Jägerlatein und die Folgen von zu viel billigem Branntwein. Dennoch kommt es seit Generationen immer wieder zu Berichten über diese Kreaturen: Hungerschatten zeichnen sich in erster Linie dadurch aus, dass sie noch nie jemand deutlich gesehen, geschweige denn gefangen oder gar erlegt hat. Sie werden für gewöhnlich als dunkle Umrisse oder unscharfe Schatten in dunklen, immer mondlosen Winternächten beschrieben. Diese Schatten scheinen nie den Boden zu berühren – Spuren wurden jedenfalls nie gefunden – und schweben oder fliegen stattdessen in sehr geringer Höhe, so dass sie problemlos Wild und Vieh, aber auch Kinder und sogar erwachsene Menschen packen und in den Nachthimmel reißen können. Ähnlich wie Eulen bleiben sie dabei nahezu lautlos und stoßen angeblich nur manchmal ein kurzes hohes Kichern aus. Es gibt aber auch Erzählungen über ganze Schwärme von Schatten oder gigantische einzelne schwarze Formen vor dem winterlichen Sternenhimmel, auch wenn diese nur selten in Verbindung mit irgendwelchen Angriffen dieser rätselhaften Wesen auftreten. In den wenigen Fällen, in denen Tierkadaver oder tote oder verletzte Menschen nach einem Überfall durch Hungerschatten aufgefunden wurden, wird oft von grausamen Verletzungen durch eine seltsame Art von Krallen erzählt, die sich wie eine mit Angel- und Fleischerhaken besetzte Kette in die Opfer bohren und außerdem ein blutiges Muster hinterlassen, das an die Male gigantischer Blutegel erinnert. Bis heute bleibt die genaue Natur der Hungerschatten ein ungelöstes Rätsel, dessen vielleicht bizarrste Ausformung die sogenannten Schattenfolger sind. Dies soll ein Geheimbund von Gelehrten sein, der glaubt, dass die Hungerschatten einst einer höheren Macht dienten, die auf den dunklen Monden residierte, nun aber verstummt ist, so dass die Hungerschatten wahllos nach Opfern suchen – gelänge es den Schattenfolgern jedoch, Kontakt mit den Hungerschatten herzustellen, so könnten sie an die Stelle der alten Meister treten und vielleicht sogar auf den gezähmten Schatten hinauf in den Himmel reisen…
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