Die Dreiheilige Kirche legt bekanntlich viel Wert auf die korrekte Bestattung der Toten und die ordentliche Errichtung und Erhaltung von Grabstätten. Daher mag es ungebildete Naturen überraschen, wenn sie erfahren, dass einige wenige Laektoren nicht nur in der Lage sind, als Medium mit frisch Verstorbenen zu kommunizieren, sondern dies auch mit dem ausdrücklichen Segen ihrer Kirche tun! So empfangen diese Laektoren manchmal kurze Botschaften der Verstorbenen, wie etwa Visionen von den letzten Momenten ihres Lebens oder sogar Hinweise auf verlorene Erbstücke, uneheliche Kinder, vertuschte Verbrechen oder ähnliches. Dazu verwenden sie, wie für trisantische Segen und Flüche, ihr Libram und religiöse Riten die zusammen mit den Hinterbliebenen durchgeführt werden. Derartige Beschwörungen der Geister Verstorbener gelten in der Waismark gemeinhin nicht als widernatürliches Gräuel, sondern vielmehr als heilige Kunst, die auf einer besonderen göttlichen Gabe beruht. Daher erhalten auch nur wenige, als besonders fromm und kirchentreu geltende Priester die spezielle Ausbildung und die besiegelte Genehmigung des Hierophanten, welche für solche Beschwörungen von Nöten sind. Während das gemeine Volk diese Laektoren als Totenprediger und die entsprechenden Riten als Geistermessen bezeichnet, spricht die Kirche offiziell von Nekromanten, d.h. den Meister der heiligen und geheimen Kunst der Nekromantie.
Stimmen der Waismark
„… wir müssen diesen Möglichkeiten nachforschen und so erfassen, was wirklich im Innersten der Menschen lebt und was ihr Schicksal ist! Gerade als Diener der Kirche ist dies nichts weniger als unsere heilige Pflicht – auch wenn alte Männer das Gegenteil predigen!“
Aus einer Diskussion im Hinterzimmer einer Taverne in Phanagor
Nun geht die trisantische Kirche auch im Rahmen der nekromantischen Ausbildung davon aus, dass diese Kunst dem Laektor mittels der Gnade der Heiligen Drei einen echten Kontakt zu den Seelen der Verstorbenen erlaubt. Leider ist dieser Lehrsatz selbst innerhalb der Kirchengelehrten seit Jahrhunderten umstritten. Daraus ergab sich aber nicht nur eine lange Reihe von Anklagen und Urteilen wegen schwerer Häresie, sondern auch die Entstehung einer Untergrundbewegung von ebenso intelligenten wie unerschrockenen jungen Laektoren. Diese nehmen an, dass ein Nekromant gar keinen tatsächlichen Totengeist beschwört, sondern ihn lediglich aus den kollektiven Erinnerungen der Hinterbliebenen und dem psychischen Echo, dass der Verstorbene in seiner Umwelt hinterlassen hat, rekonstruiert! Glücklicherweise bleibt es für die Mehrheit dieser Dissidenten bei rein akademischen Diskussionen unter Freunden. Einige belassen es jedoch nicht bei bloßer Theorie. Sie sind vielmehr überzeugt, dass aus der erwiesenen Möglichkeit, durch Nekromantie ein seelisches Simulacrum, ein bruchstückhaftes geistiges Abbild eines Toten zu erzeugen, auch die Möglichkeit folgen muss, mit hinreichendem Aufwand eine vollkommen synthetische Seele herzustellen! Derartige Seelen hätten nie gelebt und könnten daher in einem Zustand völliger Reinheit und Perfektion ins Dasein treten – wie ein Neugeborenes, aber mit dem bereits eingebauten Wissen und der Klugheit eines gelehrten Mannes. Anhänger solcher Ideen waren sich auch schon vor Jahrhunderten der ihnen drohenden Gefahren bewusst, weshalb es in ihren Kreisen rasch zur Sitte wurde, ihre Forschungen möglichst im Geheimen, allein oder in kleinen Zirkeln zu betreiben. Die Laboratorien der Seelenschneider oder Psychorhapter, wie sie sich selbst nennen, liegen deshalb meist in einsamen Ruinen oder vergessenen Wehrtürmen und Jagdschlössern irgendwo inmitten dunkler Wälder und schwer erreichbarer Täler. Dort versuchen sie, aus den unterschiedlichsten Komponenten – von Liebesbriefen, Mordwaffen und Kinderspielzeug bis hin zu balsamierten Leichen, lebenden Tieren und frisch verursachtem Schmerz – eine Art psychisches Konstrukt zusammen zu setzen. Dabei hoffen sie, über den Umweg über immer menschlichere Konstrukte irgendwann eine echte neue Seele erschaffen zu können. Viele arbeiten allerdings ihr Leben lang an weit einfacheren Konzepten wie der Re-Kombination gewisser emotionaler Muster von Pflanzen oder Tieren.
Stimmen der Waismark
„… es führt leider kein Weg daran vorbei. Dieses liebenswerte, doch geistesschwache Mädchen wird für die Emotionen der neuen Seele sorgen. Ebenso wie dieser auf Zahlen und Karten fixierte Jüngling, der so gefühlskalt ist, dass er selbst die Umarmung seiner Mutter nicht duldet, aber nie etwas vergisst: ihn brauchen wir für den reinen Intellekt! So, nun zur Methode der Extraktion …“
Gespräch von Meister Lodword mit seinem Lehrling im Grauen Turm zu Paym
In den letzten hundert Jahren soll es aber zu einer unerklärlichen Zunahme des Phänomens der Seelenschneider gekommen sein. Sie sollen gleichzeitig auch mehr und mehr Erfolg bei ihren Forschungen gehabt haben, stießen dabei nur leider auf ein Problem, welches wohl schon bei einigen der ersten Versuche dieser Art aufgetaucht war: Besessenheit! Denn, auch, wenn die frisch geborenen Pseudoseeelen nie einen Körper hatten, verlangt es sie instinktiv nach einem solchen. Befindet sich also eine Pflanze oder ein Tier in derselben Umgebung (Zone) wie das jeweilige Seelenflickwerk, so wird es von dem Körper Besitz ergreifen – manchmal sogar, wenn dieser längst tot ist. Verständlicherweise haben schon diese Fälle von Besessenheit zu so manchen unheimlichen Legenden und Gerüchten in der Waismark geführt, aber zum Glück ist kaum ein NNN fähig, seine Konstrukte länger als ein paar Stunden oder Tage vor dem Zerfall zu bewahren. In jüngster Zeit erzählen sich NNN jedoch untereinander von einigen besonders genialen Kollegen, denen es gelingt, auf den ersten Versuch hin eine stabile quasi-menschliche Seele zu schneidern. Diese Gebilde sollen meist äußerst menschenähnlich sein und über eine bisher nicht beobachtete Lebensdauer verfügen. Leider scheint niemand sicher zu wissen, ob eine Pseudoseele dieser Machart bereits in menschlicher Gestalt durch die Waismark wandert. Aber es gilt als gesichert, dass mehrere dieser Entitäten lernten, dauerhaft ohne festen Körper zu existieren und physische Hüllen nur nach Bedarf zu übernehmen! Auch traditionellen kirchentreuen Nekromanten ist diese Entwicklung nicht völlig verborgen geblieben und sie fragen sich nun, ob es vielleicht schon vor tausend Jahren zur Erschaffung solcher völlig unabhängiger Geistwesen gekommen sein könnte. Wenn ja: zu was sind diese in einem Land voller Glauben an Teufel, Gespenster und Höllenmonster bis heute geworden?
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