Nach einer kurzen Pause geht es auch wieder mit den Fragmenten weiter:
Kein Jahr vergeht im Norden, in dem nicht irgend ein Kriegsherr sich erhebt, von sich behauptet er wäre der größte aller Krieger und versucht, sein Umland zu „einen“ (oder oftmals besser gesagt: niederzubrennen und auszurauben). Viele dieser selbsternannten Herrscher sind wenig mehr als bessere Räuberhäuptlinge. Einige aber sind tatsächlich kompetent. Diese werden dann zu den Anführern mächtiger Heere und vielleicht auch zu den Ahnherren neuer Dörfer und Festungen. Manchmal entstehen für kurze Zeit größere Fürstentümer, manchmal zerfallen die „Imperien“ der Kriegsherren nach deren Tod gleich wieder. Für die freiheitsliebenden Bewohner des Nordens ist all dies nichts Neues. Seit zwei Jahrzehnten macht jedoch ein Kriegsherr die weiten Ebenen des Kontinents unsicher, der aus der Masse der üblichen Fürsten und Häuptlinge heraussticht. Er nennt sich Leldramok und behauptet von sich, der letzte legitime Erbe der alten Könige von Balta zu sein. Daher bezeichnet er sich auch als „König“ und verwendet so einen Titel, den seit dem Fall des mythischen Reiches Balta niemand im Norden mehr geführt hat. Leldramok behauptet, der rechtmäßige Herr des Nordens zu sein und stellt den Anspruch, dass überall sein Wort als Gesetz gilt. Diesen größenwahnsinnigen Anspruch kann Leldramok dort, wo er auftaucht, auch spielend durchsetzen, kommandiert er doch 3000 vorzüglich bewaffnete Männer und eine Kriegsmaschine, wie sie der Norden noch nie (oder seit Jahrhunderten nicht mehr) gesehen hat: Die Wandelburg! Dieses gewaltige Konstrukt ist über 60 Schritt lang, 40 Schritt breit und hat eine 30 Schritt hohe „Bordwand“, über welche sich eine große Kuppel und mehrere Türme erheben. Die Wandelburg besteht fast ausschließlich aus Holz und bewegt sich auf Dutzenden mannsdicker Eichenwalzen fort, die von eisernen, stachelbewehrten Bändern umgeben sind. Für den Vortrieb sorgen zwischen 50 und 60 Mammuts im Inneren der Burg, deren Körperwärme auch gleich zur Heizung der Räume innerhalb der Burg beiträgt. Auf den Türmen sind große Ballisten montiert, die hölzernen Zinnen können mit Bogenschützen bemannt werden. Im Inneren der Burg befinden sich Waffen- und Vorratskammern und die Unterkünfte des in Fell und Seide gekleideten Hofstaates des Leldramok. Der König selbst residiert in Gemächern im höchsten der hölzernen Türme, verbringt aber viel Zeit zusammen mit seinem Harem im mit Blattgold ausgeschlagenen Thronsaal seiner fahrenden Festung.
Schneller als Schrittgeschwindigkeit kann selbst die domestizierte Mammutherde das Gefährt nicht beschleunigen – dafür gibt es, von zu steilem Gelände einmal abgesehen, im Norden so gut wie nichts, was die Wandelburg aufhalten könnte. Die Befestigungen von Dörfern überrollt die Kriegsmaschine einfach, wenn sie nicht schon vorher von König Leldramoks Heer niedergerissen wurden. Bisher hat niemand Leldramok im Feld besiegen können.
Das Reich des angeblichen „Erben Baltas“ befindet sich immer einen Tagesritt um die Wandelburg herum – egal, wo die Wandelburg sich auch grade befinden mag. In vielen Fällen werden Bauern und Dörfler völlig davon überrascht, plötzlich zum Reiche Leldramoks zu gehören. Da die Wandelburg und ihre Bewohner einen unstillbaren Hunger haben, ist das erste, was Leldramok befiehlt, wenn neue Dörfer in Sicht kommen, die „fälligen“ Steuern einzutreiben. Weigert sich ein Dorf, die horrenden „Abgaben“ freiwillig zu entrichten, lernt es die Kampfkraft der Wandelburg kennen. Die Armee des Königs, die aus rekrutierten Thraskiten und Thuul besteht, hat eine immense Erfahrung im Plündern und Brandschatzen. Zieht Leldramoks Heerzug weiter, bleiben wenig mehr als rauchende Trümmer. Nicht, das die Lage derer, die den Abgabenforderungen freiwillig nachkommen, besser wäre – auch, wer sich unterwirft, wird derart ausgeplündert, dass das Dorf kaum in der Lage ist, den nächsten Winter zu überstehen. Die Raubzüge sorgen dafür, dass die Krieger der Wandelburg vor Kraft nur so strotzen und die Bewohner der Burg ein wahrhaft luxuriöses Leben führen können. Die gute Verpflegung und der reichliche Sold, den der König seinen Mannen zahlt, sorgen dafür, dass sich immer wieder neue Krieger dem Heereszug anschließen, auch wenn die Strafen für Verfehlungen übermäßig brutal sind. Viele glauben Leldramok auch, dass er der rechtmäßige Erbe Baltas ist, denn er führt ein offenkundig magisches Zepter, das nachts unheimlich leuchtet und mit (vermutlich) baltarischen Runen verziert ist. Während die Soldaten befehligt werden wie eine herkömmliche, wenn auch recht disziplinierte und gut ausgerüstete Armee von Plünderern, herrschen im Inneren der Wandelburg völlig andere Sitten. Der Alltag in der Wandelburg ist nach einem schon fast absurd ausufernden, höfischen Ritualen strukturiert. Leldramok hält inmitten von Gold, Jade und Edelsteinen Hof, wie es der Herrscher eines großen Reiches wohl wirklich täte. Es gibt ein komplexes Geflecht der verschiedensten königlichen Posten und selbst die ausschweifenden Orgien folgen einem festgefügten Hofprotokoll. Auf die wenigen Besucher von Außen wirkt der fremdartige Mikrokosmos der Wandelburg geradezu surreal. Würden Leldramok und seine Männer nicht über arglose Dörfer herfallen wie eine Naturkatastrophe – das überbordene Hofzeremoniell hätte fast etwas Komisches.
Woher die gewaltige Kriegsmaschine stammt, ist nicht einmal den Soldaten Leldramoks bekannt. Keinesfalls ist sie ein Artefakt aus der Vorzeit, denn dazu scheint das Holz, aus dem sie gebaut ist, zu neu. Es geht das Gerücht, dass Leldramok weit im Osten über Städte und weite Ländereien herrscht. Gesehen hat dieses Reich jedoch noch nie jemand.
Vielleicht könnte Leldramok wirklich einer der mächtigsten Herrscher des Nordens werden, wenn er zu Diplomatie in der Lage wäre. Sein Reichtum lockt zwar etliche Söldner an, aber es gibt keine Häuptlinge, die sich dem König von eigenen Gnaden anschließen würden. Zu offensichtlich ist, dass Leldramok an akutem Größenwahn leidet und neben Brutalität und einer gewissen Heimtücke über keinerlei Qualitäten verfügt, die einen Herrscher auszeichnen müssten. Wenn er nicht grade die nächsten Überfälle koordiniert, ergeht sich der mittlerweile greise Leldramok in dekadenten Auschweifungen und kleinlichen Hofintrigen. Mal ganz davon abgesehen ist den meisten Fürsten des heutigen Nordens die baltarische Königswürde herzlich gleichgültig.
Unlängst bereitet eine Allianz von Stammesfürsten und städtischen Kaufleuten den Fall des Räuberkönigs vor. Insbesondere die Dörfer, die unter dem Schutz der Stadt Nidbaerg stehen, haben in letzter Zeit stark unter dem Herren der Wandelburg leiden müssen. Zwischen Nidbaerg und Leldramok herrscht eine Art Pattsituation. Trotz der Wandelburg verfügt Leldramok noch nicht über genügend Männer und Ressourcen, die mächtige Stadt direkt anzugreifen, während die Eisbrüder Nidbaergs nicht wissen, wie sie der rollenden Festung entgegentreten sollen. Jetzt sucht der Rat Nidbaergs nach aufrichtigen und listigen Kriegern, die helfen, das Gefährt entweder in eine Falle zu locken oder es heimlich infiltrieren, um dem wahnsinnigen König ein Ende zu machen.
Noch wissen im Norden nur sehr wenige, dass auch eine andere Macht reges Interesse daran hat, Leldramok das Handwerk zu legen. Natürlich zürnt man in der imperialen Metropole Nephelin auch nach zwanzig Jahren immer noch jenem mittelmäßigen Hilfstechnosophen, der mit ein paar spinnerten Getreuen eines Nachts auf einer Testfahrt durch die Steppe die größte Kriegsmaschine stahl, die die Stadt je bauen ließ. Und das nur, um sich unter ein paar ungewaschenen Barbaren im Norden zum Gott zu erheben. Lange Jahre war Leldramok nicht aufzufinden. Nun haben Spione in Nidbaerg endlich Anhaltspunkte über den Verbleib von Leldramok und der Wandelburg herausgefunden und nach Nephelin weitergeleitet. Dort sucht man jetzt nach begabten Freiwilligen, die den Verräter endlich zur Strecke bringen sollen. Wenn möglich, sollen sie dabei auch die Wandelburg zurückschaffen. Schließlich war das Konstrukt teuer und soll zur Verteidigung der imperialen Grenze dienen.
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