Die Fragmente

Malmsturm – Die Fragmente: Die Bruderschaft des blinden Auges

Stimmen des Imperiums

„…jetzt hör mal zu: jeder bessere Analphabet in den Kanälen sollte wissen, dass die Schriftrollen von Mara dem Prächtigen eine plumpe Fälschung sind! Nein, wir müssen schon davon ausgehen, dass die Monocularisten von einem verstoßenen Mitglied eines Herrscherhauses auf dem sagenumwobenen Äquatorkontinent begründet wurden! Wie anders will man sonst seine Fähigkeit erklären, die…“

Teil eines Streitgespräches zwischen Ulbrixar Nuul und Bharimsa Karan während des Großen Alchemistenballs in Lyssa

Vor etwa 3500 Jahren, fast ein Jahrtausend vor dem Beginn des Exzellenten Exils, kam es zum kometenhaften Aufstieg einer Sekte, deren Anhänger dem bizarren Brauch folgten, sich einer rituellen Blendung ihres linken Auges zu unterziehen. Das Auge erschien danach milchig-grau und wurde fortan mit einer speziellen Augenklappe aus Leder und Messing abgedeckt, in die eine undurchsichtige Linse aus Perlmutt wie in ein Monokel eingesetzt war. Angeblich nahmen sie diese Augenklappe nur während religiöser Riten ab, da ihr sonst blindes Auge dann befähigt war die „höheren Wahrheiten“ zu erblicken! Über diese höheren Wahrheiten und die Rituale der Bruderschaft des blinden Auges ist so gut wie nichts bekannt – mit einer Ausnahme: Dabei handelt es sich um die sogenannten „Stufen des Schwarms“: heilige Relikte, die in überall auf der Welt verstreut liegen sollen, aber vollkommen immateriell bleiben, solange sie auch nur von einem einzigen Strahl Sonnenlicht getroffen werden – selbst wenn es sich bei diesem nur um das reflektierte Licht vom Antlitz des Silbermonds handelt! Doch selbst in den dunkelsten Neumondnächten bleiben die Stufen des Schwarms dem menschlichen Auge unsichtbar und nur das Blendungsritual und die Perlmuttlinsen der Bruderschaft erlauben einen klaren Blick auf diese Wunder eines vergangenen Zeitalters. Die Stufen selbst werden in alten Texten als riesige Keile aus durchscheinendem Kristall beschrieben, in die eine Treppe mit übermenschlich großen Stufen geschlagen wurde, welche viele Stockwerke hoch in den Nachthimmel führt. Am oberen Ende dieser Kristalltreppe endeten die Stufen dann zwar eigentlich, aber angeblich konnten die Anhänger der Sekte dort eine bis in den Himmel weiterreichende Unendlichkeit von geisterhaften Stufen aus Licht erblicken – Licht in Farben, die sie nicht beschreiben konnten und die ihre profanen ungeblendeten Augen vorher nie erblickt hatten. Man sagt, die Bruderschaft hätte an diesen Stufen ihren Glauben erprobt, denn wer stark genug im Glauben war, der konnte auf den geisterhaften Stufen tatsächlich immer weiter in den Himmel hinaufsteigen! Zwar sollen dabei  tausende von diesen Stufen in den Tod gestürzt sein, aber einigen besonders heiligen Mitgliedern der Bruderschaft – darunter ihrem Gründer, einem dunkelhäutigen Mann aus fernen Landen namens Neno Ch’bowe – gelang es angeblich, das obere Ende der Treppe zur erreichen bevor die Strahlen der aufgehenden Sonne das ganze Gebilde wieder auflösten. Nach dem Glauben der Bruderschaft sollen diese Auserwählten nun in unsterblichen Körpern im Himmel leben und darauf warten, dass endlich genug weitere Gläubige zu ihnen stoßen, um dann in einem großen heiligen Krieg das Übel aus der Welt zu vertreiben und allen Wesen Erleuchtung zu bringen! Was all dies mit dem Verbot und der Verfolgung Sekte durch Imperator Turaspe XII. zu tun hat, ist inzwischen nur noch Gegenstand von Legenden und gelegentlichen Streitgesprächen zwischen gelangweilten Gelehrten, aber es gilt als sicher, dass in dem halben Jahrhundert nach der Inthronisation des Imperators im Jahre 975 vA mehr als zwei Millionen Mitglieder der Bruderschaft hingerichtet wurden. Trotz dieser unnachgiebigen Verfolgung kommt es aber auch nach Jahrtausenden immer wieder zu lebhaften Gerüchten und Verschwörungstheorien über die immer noch im Untergrund aktive Bruderschaft. Angeheizt werden diese vor allem durch gelegentliche Sichtungen merkwürdiger Ruinen, deren Gestalt an große gläserne Treppen erinnert und die in einsamen Regionen des Imperiums vom Sand frei gegeben wurden. In deren Nähe soll es dann häufig zu Fällen unerklärlichen Verschwindens, Priestermorden, Tempelbränden oder gar einer Epidemie bizarrer Augenverletzungen kommen, aber offiziell konnte bisher wohl nichts davon bewiesen werden – mit einer einzigen Ausnahme vielleicht: Denn vor einem guten Jahr, so schwören alle Karawanen und Händler aus dieser Gegend, wurde an einer alten versandeten imperialen Straße bei Anosia der stinkende Leichnam einer unbekannten Bestie entdeckt. Die Kreatur hatte keine Augen und einen gummiartigen, faulig weißen Körper, der an einen Molch erinnerte, aber dabei die Größe eines jungen Wals und sechs mit Saugnäpfen besetzte Beine besaß. Ein zerbrochenes Schwert steckte im Schädel des Monsters, das auf einem Dutzend gläserner Stufen lag, die neben der Straße aus dem Sand ragten – ganz so, als wäre es erschlagen worden, während es die ins Leere führenden Stufen hinunter kroch…

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