Schriften des Nordens
Damit folgt geradezu notwendig die wahrhaftig prä-historische Existenz einer hochentwickelten Zivilisation noch weit vor der Geburt des Bhaltarischen Reiches. Ihre offenbar entlegene geographische Position erklärt dabei zugleich das Fehlen jeglicher Relikte im herkömmlichen Sinne, da es nur vernünftig erscheint, den weit überwiegenden Anteil ihres einstigen Herrschaftsbereichs nun weit unter dem undurchdringlichen Eispanzer der Khor-Ebene zu vermuten…
Eregar Iglad von Nhastrand, Grundlegung einer neuen Geschichte des Nordens
Von Zeit zu Zeit hört man an den Feuern des Nordens vom sogenannten „vergessenen Westen“, einem meist als lebloses Brachland beschriebenen Landstrich, der gemeinhin nur erwähnt wird, um als vergleichender Maßstab für die Leere und Ödnis einer Region zu dienen. Fragt dann jemand tatsächlich nach, was es mit diesem vergessenen Westen auf sich habe und wo genau er denn zu finden sei, so ist die Folge meist allgemeine Überraschung angesichts dieser Frage, gefolgt von einem überzeugt vorgetragenen Bündel einander widersprechender Antworten. Den Abschluss bildet so üblicherweise eine unterhaltsame Schlägerei, nach der sich üblicherweise keiner der Teilnehmer mehr besonders für den Anlass derselben interessiert – oder sich wenigstens daran erinnern könnte. Forscht aber jemand dennoch ernsthaft weiter nach dem Ursprung dieses Ausdrucks, so wächst zumindest rasch die Bereitschaft, dahinter ein Gebiet weit westlich des Nebelmeers zu vermuten. Nun ist bekannt, das irgendwo weit im Nordwesten des Nebelmeeres die monströsen Gletscherklippen der Hochebene von Khor warten, während im Südwesten, jenseits von Gerdersee und Iallerbrund, nur noch die tödliche Eiswüste der Mhanala zu finden ist. In den wenigen schriftlichen Quellen zum Thema wird allerdings ausgeführt, dass zwischen den Unterläufen von Wergel und Urtbrun, also dem Hinterland des nordwestlichen Ufer des Nebelmeers, ein gewissermaßen namenloses Gebiet liegt, das zudem wohl seit Jahrtausenden von niemandem mehr beansprucht wurde. Denn obwohl diese Region in Hinblick auf Tier- und Pflanzenwelt sowie klimatische und landschaftliche Verhältnisse eine direkte Fortsetzung der Arsali zu sein scheint, gilt sie nicht als Teil derselben. Am deutlichsten wird dies an den Sitten der Pandharen, deren nomadische Sippen seit vielen Jahrhunderten den Wergel als Südwestgrenze „ihrer“ Arsali ansehen, welche sie auf ihren Wanderungen – von gelegentlichen Raubzügen einmal abgesehen – nie verlassen. Darüber hinaus scheint es aber nichts besonders an oder in diesem Niemandsland zu geben.
Stimmen des Nordens
„…Tradition? Glaubt hier wer ernsthaft, die Pandharen würden was auf Tradition geben, wenn auf der Südseite des verdammten Flusses grünes Land und jagdbares Wild zu Zehntausenden auf sie warten? Nein, ich weiß Bescheid: Als wir damals auf der Flucht vor Gurtars Eispiraten blind in diesen Sturm segelten, da warf er uns zwei Tage später an der Nordwestküste ab. Reparaturen zwangen uns, dort drei Tage zu bleiben – also gingen wir auf Jagd. Wir versuchten es zumindest. Denn obwohl die Tiere dort doch noch nie einen Menschen gesehen haben sollten, war es uns unmöglich, auch nur an einen verfluchten Hasen näher als dreihundert Schritt heran zu kommen! Trotzdem hörten wir in der ersten Nacht immer wieder etwas um unser Lager schleichen, konnten aber nichts entdecken. Ich gehörte dann zu denen, die fortan an Bord schliefen – nur sechs Mann blieben nachts an Land. Und am Morgen unserer Abfahrt fanden wir ihr Lager leer und verlassen…“
Tochgor Sorsen der Ältere, an Bord der Mondtochter auf dem Weg nach Svinsager
Dieser Mangel an möglichen Spuren führte die meisten Gelehrten dazu, den vergessenen Westen an anderer Stelle zu suchen: weiter im Westen. Sie vermuten die fragliche Region am Mittellauf des Wergel, genauer gesagt oberhalb des Zuflusses des Horl. Von dort bis zu den Gletscherklippen und Eistälern am Rande der Khor, aus denen der Wergel hervortritt, erstreckt sich ein weites Tal entlang des Flusses, in dem einige Gelehrte die Überreste einer uralten Kultur vermuten, in dem aber noch mehr den besagten sprichwörtlichen „vergessenen Westen“ sehen. Der Grund dafür sind die Berichte einiger Reisender, insbesondere der über vier Jahrhunderte alte „Traktat über die Quellflüsse des Wergel“ von Iurdmar Einhand. In ihm schildert Iurdmar das Tal als eine scheinbar endlose Aneinanderreihung riesiger bemooster Quader und Würfel aus grauem Stein, die entlang beider Ufer des Flusses bis zum Horizont aus dem Boden zu brechen scheinen. Von echten Gebäuden, Statuen oder wenigstens alten Werkzeugen und Waffen berichtet er hingegen nichts, was viele Gelehrte sogar in ihrer Annahme bestärkt, dies sei der ursprüngliche „vergessene Westen“, da dieser eben nicht einmal die Ruinen einer Stadt beherberge, sondern nur die erwähnten Felder voller Felsen, die bestenfalls an einen gewaltigen Friedhof erinnern würden! Dem widerspricht im wesentlichen nur ein anderer Bericht, nämlich der des legendären Jägers Rialf Iarnarm, der vor etwa hundert Jahren davon erzählte, wie er bei der Verfolgung eines Sturmtigers in eben jenes Tal gelangte, dort aber Zeuge einer merkwürdigen Zeremonie wurde: Aus der Ferne sah er wie ein Trupp Choárkrieger, die offenbar von ihren Gletschern herunter gestiegen waren, mit einem stumpfen Gesang zwischen den Quadern umhergingen und die Leichen anderer, scheinbar im Kampf gefallener Choár einsammelten. Auch das übrige Schlachtfeld, denn darum handelte es sich wohl, schienen sie sorgsam zu säubern, wobei sie gelegentlich fremdartig wirkende dunkle Objekte – vielleicht die Leichen ihrer Gegner – einfach abfackelten. Die meisten Gelehrten geben jedoch nicht viel auf Iarnarms Geschichte und erklären sie zu bloßem Jägerlatein. Nur einige eher als exzentrisch angesehene Gelehrte leiten aus Iarnarms Bericht die Idee ab, dass es sich bei dem historischen Vorbild für den „vergessenen Westen“ um ein tatsächlich in Vergessenheit geratenes Reich handeln könnte, welches sich einst entlang der Ufer des Wergel erstreckte, dessen Ruinen aber nun bis auf einige hohe Türme tief im Dreck der Jahrtausende begraben liegen…
Schriften des Nordens
Nur die weltfremde Verbohrtheit meiner sogenannten Standesbrüder kann erklären, warum sie sich weigern, die Wahrheit zu sehen: Offenbar ist das geheimnisvolle vergessene Reich des Westens eben nicht untergegangen – es ist buchstäblich versunken! Aber dennoch existieren die Nachfahren dieser Hochkultur noch tief unter dem mittleren Wergeltal – und es ist unsere Pflicht, sie zu finden! Deshalb habe ich begonnen, eine Expedition zu planen, für die ich nun nur noch einige wehrhafte Männer und tüchtige Jäger suche, die uns sicher gen Westen geleiten werden…
Serbard von Faensal in einem Brief an seinen Vetter in Nhastrand
Kommentar verfassen