Viele absonderliche Künste haben sich im Laufe der Millenien im Imperium entwickelt. Schlichte Malerei oder Bildhauerei sind hier nur die simpelsten. Imperiale Künstler begründeten viele obskure Kunstrichtungen wie zum Beispiel das Erschaffen von Statuen aus Fleischmarmor, das telepathische Malen mit psychoaktiven Farben aus Meteoritenstaub der Wüste Hom, die olfaktorische Bildhauerei bei der fragile Skulpturen aus den Dünsten giftiger Blumen Dhelyriens erschaffen werden und dergleichen Absonderliches mehr. Keine dieser wundersamen Künste kann sich aber mit der imperialen Kunstgattung schlechthin messen – der Oper! Wann zum ersten Mal mit Gesang unterlegte Theateraufführungen ein begeistertes Publikum fanden, verliert sich dabei im Dunkel der Vorzeit. Seit schier undenklichen Zeiten lieben alle imperialen Gesellschaftsschichten Opern und Singspiele der verschiedensten Art. Die Dominanz der Oper auf den Bühnen des Imperiums ist so groß, das man Theaterstücke ohne Musik und Gesang allenfalls noch bei Puppenspielen findet. Selbst die größten und wichtigsten Stücke der imperialen Literatur sind ihrer Zeit als Opern geschrieben worden. Da die Oper laut führenden Kunsttheoretikern alle wichtigen Kunstgattungen wie Literatur, Musik, Malerei, Bildhauerei, Tanz und Magie in sich vereint, gilt sie gleichermaßen als Königin aller Künste. Opern gibt es in unzähligen Varianten für alle Gesellschaftsgeschichten.
Am verbreitetsten ist wohl die Volksoper, die von den Massen des gemeinen Pöbels in den Gossen konsumiert werden. Hier werden Volkslieder und Gassenhauer zu meist schlichten Handlungen zusammengegossen. Thematisch sind schlichte Schwänke, durchschaubare Kriminalerzählungen oder an den Haaren herbei gezogene Abenteuergeschichten besonders beliebt. Tragödien spielen in der Volksoper nahezu keine Rolle. Die Volksoper soll dabei vor allem eines: Dem einfachen Volk ein paar Stunden Ablenkung vom tristen Vegetieren in den Slums bieten. Theatertruppen inszenieren ihre Stücke daher betont reißerisch und arbeiten mit einer ganzen Reihe effekthaschender Bühnentricks wie alchemischen Feuerwerken oder Spiegelillusionen. Gemessen an dem, was Magiern des Imperiums möglich ist, sind diese Spezialeffekte unglaublich billig, sorgen aber dennoch für Begeisterung. Beliebt ist auch, bei Komödien einige Hauptrollen mit besonders „lustig“ deformierten Irrformen zu besetzen, so dass schon der Anblick der Darsteller für Gelächter sorgt. Nicht selten werden Volksopern auch in anderweitige Zirkusvorstellungen eingebunden oder man lässt die Kämpfe in Abenteuergeschichten von echten Gladiatoren ausfechten, damit sie auch realistisch aussehen. Volksopern sind oftmals auch interaktiv. Da das Publikum während des Stücks die Handlung kommentiert oder beliebte Lieder lautstark mitsingt, lässt sich das ohnehin nicht vermeiden. Volksopern sind daher oft Aneinandereihungen bekannter Lieder mit einer groben und flexiblen Handlungsstruktur. So wird auch in althergebrachten Komödien stets auf das aktuelle Tagesgeschehen eingegangen (wobei oft politisch Subversives an der Zensur vorbeigeschmuggelt wird) oder der Ermittler eines Kriminalstückes reagiert auf zugerufene Ratschläge des Publikums.
Auch in der Mittelschicht des Imperiums ist die Volksoper immens beliebt – ist sie doch bunter und unterhaltsamer als die feinsinnigen, aber schweren Operntraditionen der Gilden. Jede Gilde kennt einen riesigen Fundus langatmiger, an Bildungsromane angelehnter Opern, die zeigen wie aufrechte Gildenmitglieder ihren Weg innerhalb ihrer Gilde gehen. Meist sind diese Stücke übermäßig moralisierend und von schwerfälliger Musik untermalt und dementsprechend wenig beliebt. Böse Zungen behaupten, Gilden-Opern würden überhaupt nur deswegen besucht, weil ihr Besuch bei bestimmten Gildenversammlungen von der Tradition vorgeschrieben wird. Darüber hinaus wären sie ob ihrer Länge und ihrer langweiligen Art nur mit Alkohol zu ertragen. Unterhaltsamer ist da schon die Kult-Oper. Viele Kultgemeinschaften nutzen das Medium der Oper, um ihre religiösen Botschaften unter das Volk zu bringen und lassen ihre Göttersagen überaus effektvoll inszenieren. Einige Kulte, die lebenden Göttern huldigen, lassen sogar ihre Götter persönlich auf der Bühne auftreten (sofern diese das mit sich machen lassen). In einigen Fällen werden sogar ganze religiöse Zeremonien und Opferungen in die Oper eingebunden. Im Gegensatz zur Volksoper sind die Gilden- und Sekten-Opern ernster und getragener. Weder wird Sprechen während der Handlung, noch das Mitsingen erlaubt, sofern es nicht zur Kulthandlung gehört.
Die exquisiteste Form der Oper ist natürlich die Hohe Oper des Adels. Die meisten Adelshäuser unterhalten eigene Opernsäle oder Aufführungshallen, die vor Gold und Seide überfließen. Den Herren des Imperiums ist für ihr Amüsement nichts zu aufwendig, weswegen in Puncto Ausstattung und Spezialeffekten alle Register gezogen werden. Unvergessen ist beispielsweise die achtstündige Inszenierung des Historiendramas „Der Löwe von Virgh“, das auf einer mehreren tausend Quadratschritt großen Bühne mit viertausend mit echten Waffen bis zum Tod kämpfenden Komparsen in einer aufwendig nachgebauten, künstlichen Landschaft aufgeführt wurde…für ein Publikum von genau sechs Zuschauern. Opernaufführungen in Adelskreisen kann man nämlich nur auf Einladung besuchen. In der Regel sind die Aufführungen für ein sehr exklusives Publikum bestimmt. Doch nicht nur im Aufwand unterscheiden sich die Opern des Adels von denen des normalen Volkes. Viele Stücke der Hohen Oper erreichen eine immense Komplexität, geradezu philosophische Tiefgründigkeit und ein musikalisches Niveau, das höchsten Ansprüchen genügt – trotz ihres oft ermüdend hohen Gehalts an Pornographie. In der Hohen Oper finden sich die größten und erhabensten Stücke der imperialen Opernkunst ebenso wie die progressivsten Werke. Für Leute, die nicht über das Bildungsniveau des Adels oder zumindest der führenden Gildenschichten verfügen, ist die Hohe Oper mit ihren doppelbödigen Formulierungen, ihrer komplexen Symbolik und ihren verworrenen Handlungssträngen nur schwer verstehbar. Zudem zeigt sich in der Hohen Oper die morbide und perverse Wesensart des Imperiums. Viele Elemente sind sonderbar oder regelrecht abstoßend. Die beliebtesten Opern sind historische Dramen, blutige Tragödien oder feinsinnige Komödien mit gelinde gesagt beunruhigenden Formen von Humor. Kampfhandlungen werden grundsätzlich als echte Kämpfe durchgeführt, damit echtes Blut fließt. Dafür werden unliebsame Sklaven unter Drogen und Hypnose gesetzt oder man verwendet gebundene Servitoren. Auch das Ausüben möglichst perverser Geschlechtsakte auf der Bühne ist nichts ungewöhnliches. Magie hat in der Hohen Oper ebenfalls ihren Platz. Magische Symbolik ist ein fester Bestandteil der Hohen Oper und Magie wird dafür eingesetzt, atemberaubende Illusionen zu erzeugen oder den Bewusstseinszustand von Schauspielern und Publikum zu verändern. Besonders beliebt ist der Einsatz von halluzinogenen Dämpfen oder mesmerisch wirkenden Bühnenbildern, um beim Publikum kurze Phasen beglückenden, ekstatischen Irrsinns hervorzurufen.
Einige bekannte Opern:
Irias und Ifrion
Eine von tragischer Erotik durchdrungene Liebesgeschichte über zwei engelhaft schöne Zwillingsbrüder mit hämophilen Neigungen, die in der Zeit kurz vor dem Exzellenten Exil in ein Gewirr aus Hofintrigen und im Liebesrausch ausgeführten Lustmorden geraten. Ursprung der bekannten Arie „Deine Seele trinkt aus mir“ und berühmt für die exquisiten, pornographischen Szenen gegen Ende des Stückes.
Das fidele Ziggurat
Eine komische Groteske über den alltäglichen Betrieb in einem durchschnittlichen Tempel in Lyssa. Ursprünglich eine atheistische Kritik an der schwer überschaubaren Flut von Religionen des Imperiums im Allgemeinen und der Praxis des Menschenopfers im Besonderen. Im Laufe der Handlungen misslingen religiöse Opferungen oft auf absurde Weise im Slapstick-Stil. Um immer wieder eine neue, überraschende Handlung zu ermöglichen, enthält das Libretto der Oper über 670 verschiedene, groteske Opfertode, die immer wieder neu kombiniert werden. Die politische Botschaft der Oper wird ein wenig dadurch verwässert, dass bei den gezeigten, „komischen“ Toden der Spezialeffekte wegen tatsächlich Sklaven zu Tode kommen.
Schatten der Liebe
Diese Oper scheint auf den ersten Blick eine sanfte Romanze von überirdischer Zartheit zu sein, ist aber tatsächlich eine der berüchtigten „Schelmereien“ des Komponisten, Dichters und Daemonologen Kreiton Khalatris, der bekannt dafür war, magische Fallen in seine Stücke einzuflechten, um Zuschauer und Darsteller gleichermaßen zu überraschen. In „Schatten der Liebe“ versteckt sich, für magische Laien unbemerkbar, ein Beschwörungsgesang, der einen der brünstigen Tentakeldaemonen von Jaglan-Dur auf die Bühne herabruft, wenn die Tonlage einer bestimmten Arie richtig getroffen wurde. Die beschworene Kreatur macht sich sofort nach ihrem Erscheinen daran, sich an den Darstellern zu vergehen. Das Stück ist in gewissen Kreisen des Adels sehr beliebt, aber mittlerweile zu bekannt. Da die meisten Schauspieltruppen die „Pointe“ des Stückes mittlerweile kennen, kann es nur unter Zwang oder mit Prostituierten aufgeführt werden.
Abenteuer in Dhelyrien
Eine der beliebtesten Volksopern, welche die abenteuerliche Reise des jungen Matrosen Khahouni in das ferne Inselreich Dhelyrien beschreibt, wo er Monstern, Piraten und wilden Eingeborenen begegnet, einen Schatz findet, natürlich eine Prinzessin heiratet und als reicher Mann in das Imperium zurückkehrt. Etwas trivialer, aber klassischer Abenteuerstoff, der in zig verschiedenen Fassungen immer wieder neu erschaffen wurde – und außerdem die Lieblingsgeschichte unzähliger kleiner Jungen im ganzen Imperium.
Der aufrechte Kontorist
Eine „erbauliche“ und pädagogische Oper der Händlergilde, die mit moralinsaurem Gesang und erhobenem Zeigefinger den richtigen Werdegang eines jungen Gildenmitgliedes zeigt. Die Oper ist ziemlich typisch für Gildenopern und wäre belanglose Standartkost, wenn es nicht noch eine umgeschriebene Satireversion von „Der aufrechte Kontorist“ gäbe. Diese hält sich zwar an fast denselben Handlungsbogen wie die richtige Version, aber die Lieder sind so umformuliert, dass sie typische Missstände und Korruptionsaffären innerhalb der Händlergilde auf bissige Weise bloßlegt. Die Satire wurde auf Bestreben der Gilde hin verboten, wird aber noch immer gern aufgeführt. Da beide Versionen dasselbe Bühnenbild und dieselbe Musik haben, besteht ein beliebter Trick, um der Stadtwache und den Zensoren zu entgehen, darin, dass beim Betreten der Opernhalle durch die Wache nahtlos auf den richtigen Text der Oper umgewechselt wird.
Im dritten Wendekreis der Siebzehn
Diese selten aufgeführte Oper gilt als so progressiv, dass sie sich dem sterblichen Zuschauer in keinster Weise erschließt. Das genau 18,375 Stunden dauernde Stück ist ausschließlich von atonaler Musik mit Geierknochenflöte, Harfe und Sistrum unterlegt, der Gesang besteht nur aus Heulen und Stöhnen. Das Bühnenbild zeigt bewegliche geometrische Formen und langsam schmelzenden Wachskugeln, die von der Decke hängen. Die Schauspieler sind als grüne Plüschbälle kostümiert. Der Verfasser des Stückes ist unbekannt und soll angeblich ein Daemon gewesen sein, was einiges erklären würde. Etliche Zuschauer „erleiden“ während der Aufführung bizarre Visionen von außerdimensionalen Welten. Ob durch Magie oder Übermüdung ist unbekannt.
Kommentar verfassen