Schriften der Waismark
Seit jeher fürchten viele Menschen die Nacht welche den zehnten vom elften Monat eines jeden Jahres trennt, denn in dieser Nacht des Silberneumonds stehen alle fünf der Grauen Monde gleichzeitig am Himmel und blicken wie die lichtlosen Augen eines Blinden auf die dunkle Welt unter ihnen. Wir aber sind gesegnet in dem Wissen, dass in dieser Nacht die seligen Verstorbenen aus den Fenstern im Hause des Vaters auf uns schauen und uns vielleicht die Gnade erweisen, in den folgenden zwölf Monaten als unsere Fürsprecher bei der heiligen Familie zu wirken!
Über Sorgen und Nöte: eine Sammlung einfacher Litaneien und grundlegender Predigten zur Festigung des Glaubens und Stärkung der seelischen Gesundheit — Kolbard von Andinas, Gesammelte Schriften Bd. VII
Wer die Länder der Waismark in der Zeit kurz vor Anbruch der Graumondnacht bereist, dem präsentiert sich in Städten und Dörfern, in ärmlichen Hütten ebenso wie in den Hallen der Ratsherren und Fürsten ein friedliches, ja, sogar feierliches Bild: Auf Grabsteinen, hinter den Fenstern und über den Türen der Häuser leuchten schwarze Kerzen und dunkel bemalte Öllämpchen. Gebinde aus dunkelrotem Herbstlaub und rußgeschwärzten Kastanien hängen an Wänden und Dachbalken. Überall duftet es nach verbrannten Heckenrosen – und für jeden Freund und Verwandten, den die Menschen im Vorjahr verloren haben, tragen sie einen kleinen Punkt aus der so gewonnenen Asche auf ihrer Stirn. In dieser Zeit reden die Menschen gern und viel über die Verstorbenen, wobei sie sich oft so verhalten als wären diese noch anwesend. Das geht so weit, dass bei dem traditionellen Festmahl zu Anbruch der Graumondnacht sich stets ein überzähliges volles Gedeck vor einem freibleibenden Stuhl befindet, da dieser Platz den Toten gebührt. Offiziell entstammen alle derartigen Sitten dem trisantischen Glauben, doch auch wenn dies in jeder Predigt am Tag vor der Graumondnacht neu erzählt wird, so ist die ursprüngliche Tradition sowohl älter als auch weitreichender als die Lehren der Dreiheiligen Kirche. So werden an vielen Uferregionen des Ibernischen Golfs an diesem Abend Hochzeiten gefeiert – ganz wie es dem alten Brauch der Ghorgarden entspricht, deren heidnische Priester so den Kreislauf von Leben und Tod schließen wollten. Noch fremdartigere Riten lassen sich manchmal in entlegenen Regionen beobachten, in denen die Lytaen siedeln. Außenstehende haben keinen Zutritt zu ihren Graumondfeiern, aber aus der Ferne lassen sich hier und dort haushohe Figuren aus Holz und Stroh erkennen, die in Flammen aufgehen sobald die Grauen Monde alle am Himmel erschienen sind. Selbst die berühmten Hautbilder der Lytaen sollen während dieser Feiern gestochen werden, wenn auch wohl nicht mit dem Blut oder der Asche von Menschenopfern, wie viele böse Gerüchte behaupten!
Die Graumondnacht steht in der Waismark allerdings nicht nur für Feste, religiöse Traditionen und saisonale Riten. Darüber hinaus gibt es in allen Gegenden und Gesellschaftsschichten einen überreichen Schatz an uraltem Aberglauben und sehr realen Ängsten zu dieser Zeit. Besonders ausgeprägt und verbreitet sind dabei der Glaube an Mondhexen und die Furcht vor der sogenannten Grauwut: Mondhexen – oder Mondhexer – sollen eine widernatürliche, heidnische Form von Magie ausüben, die ihre Kraft von fünf unaussprechlichen Wesenheiten beziehen soll, welche einst mächtige Reiche auf den Grauen Monden beherrschten, nun aber vom Licht des Silbermonds gefesselte untote Schatten ihrer selbst sind, die nur in Neumondnächten nach den menschlichen Seelenopfern greifen können, die ihre Diener ihnen darbringen. Wie oder warum jemand zur Mondhexe wird ist allerdings ebenso umstritten wie die Frage, ob es solche Wesen jenseits von Ammenmärchen überhaupt gibt. Die Grauwut hingegen gilt als erschreckend wirklich, wenn auch nicht weniger unerklärlich. Diese Krankheit soll ausschließlich während des Silberneumonds, vor allem aber zur Graumondnacht ausbrechen. Sie kann selbst Kinder befallen und beraubt ihre Opfer jeglicher Emotionen – bis auf eine kalte Wut auf alle anderen „normalen“ Menschen, denen sie dann nach dem Leben trachten. Zunächst meist mittels ebenso raffinierter wie grausamer „Unfälle“, später durch heimtückische Morde und endlich in einem finalen Blutrausch, der oft zuletzt sogar ohne Waffen, nur mit Zähnen und bloßen Händen ausgelebt wird…
…da stand mein Neffe, lächelnd wie immer, über dem zerfleischten Körper meiner Schwester während um uns herum das Haus brannte! Ich weiß, ich bin ein Feigling, aber ich konnte nur noch rennen – vielleicht ist er sogar noch dort, allein in den Ruinen unseres alten Dorfes…
Irgendein Säufer in einer Taverne in Paym
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