Auch wenn sich gemeinhin nur einige Gelehrte, Politiker, Priester und Magier mit Theorien zu den genauen Grundlagen und Gesetzen hinter solchen Phänomenen wie dem Malmsturm, den verschiedenen Formen der Magie oder gar der sogenannten dramatischen Realität befassen: selbst in den entlegensten Regionen der Welt kennen und fürchten die Menschen die ungeheure Macht, welche aus ihren eigenen Wünschen, Träumen, Alpträumen, Ängsten und Ahnungen erwachsen kann. Dies führte nahezu überall zu der Entstehung von Überlieferungen und Traditionen, deren ausdrücklicher Zweck darin liegt, sich vor den schlimmsten Ausformungen solcher ungezügelter Kräfte zu schützen. Dabei liegt die vielleicht einfachste und universellste derartige Gefahr in dem, was allgemein als „Gerücht“, „Gerede“, „Flüsterpropaganda“, oder schlicht „Klatsch“ bekannt ist. Derartige Erscheinungen vermögen in der Welt des Malmsturms schon jeweils ganz für sich allein, die genauen Gegebenheiten der Wirklichkeit eines bestimmten Objekts, Ortes oder sogar einer Person zu beeinflussen, aber wirklich gefährlich wird es oft erst, wenn Menschen mit einem besonderen Talent in die Angelegenheit verwickelt werden.
Schriften der Waismark
…empfehlen wir daher die Einrichtung eines geheimen Ordens, ausgewählt aus gebildeten und wundertätigen Laektoren, den wir mit der Überwachung und Regulierung der zunehmend ausufernden Tätigkeit, der im Volksmund als Schandmäuler bekannten unheiligen Agitatoren beauftragen können. Weiterhin…
Teilübersetzung eines verschlüsselten Briefes, der bei der Leiche eines Kirchenboten nahe Andinas gefunden wurde.
Jeder, der in einem der vielen kleinen Dörfer und Höfe der Waismark aufwuchs, kennt die Geschichten über die gefürchteten Schandmäuler: scheinbar gewöhnliche Männer, Frauen oder sogar Kinder, die vielleicht über Jahre hinweg unauffällig inmitten einer Dorfgemeinschaft lebten, nur, um dann eines Tages mit dem Ersinnen oder Verbreiten irgendwelcher Gerüchte zu beginnen. Bliebe es dabei, so gäbe es keinen unmittelbaren Grund zur Beunruhigung, aber dem Gerede eines Schandmauls wohnt eine unheimliche Kraft inne: wo gewöhnliche Geschichten dieser Art weiter Verbreitung und oft auch einer gewissen Originalität oder emotionalen Wucht bedürfen, um nachhaltigen Einfluss auf die vorliegende Realität auszuüben, da vermögen Schandmäuler schon mit einer Handvoll Zuhörern und in nur wenigen Tagen das Geschick ganzer Familien oder Landstriche zu beeinflussen! Dummerweise gilt für die meisten Schandmäuler auch, dass sie keine Ahnung von ihrer Wirkung haben und auch keinerlei bewussten Einfluss auf diese nehmen können. So kann es leicht geschehen, dass ein Schandmaul unerkannt durchs Leben geht und wie nebenbei ein willkürliches Gemisch aus Glück und Unglück über sein Umfeld ausgießt – ein Gemisch, welches der menschlichen Natur und des für sie größeren Unterhaltungswertes von Unglück und Zerstörung wegen, meist nur sehr wenig wahres Glück für irgendwen enthält. Angesichts dieser verheerenden Wirkung verwundert es niemanden in der Waismark, dass man solchen Trägern der „bösen Zunge“, wie man auch sagt, mit möglichst endgültiger Härte begegnen muss. Praktisch bedeutet das nicht nur regelmäßige Gebete und Segnungen der Laektoren, um so den Fluch des Schandmauls von ihren Gemeinden fernzuhalten, sondern auch Unmengen der vielfältigsten, aus lokalem Aberglauben entstandenen Schutzamulette und Glücksbringer gegen die „böse Zunge“. Natürlich liegt es in der Natur der Sache, dass solche Amulette – wenn auch kaum von der trisantischen Kirche gebilligt – schon eine gewisse Wirkung haben können, aber ironischer Weise sind meist nur Amulette, deren Wirksamkeit von einem unerkannten Schandmaul angepriesen wurde, der Macht eines Schandmauls und seiner Gerüchte auch wirklich gewachsen! Genau genommen gibt es aber leider kaum eine verlässliche Methode zur Entdeckung von Schandmäulern, so dass auch hier der Volksglaube mit einigen recht unerfreulichen Maßnahmen in Erscheinung tritt. Besonders bekannt und beliebt ist dabei die sogenannte Flüsterprobe: Dem angeblichen Schandmaul wird ein kleines Stück glühende Holzkohle auf die Zunge gelegt, die er im Mund behalten muss, bis sie erloschen ist. Danach muss er nur noch einen beliebigen Satz aus dem Libram so deutlich aufsagen, dass ihn wenigstens drei Zeugen in drei Mannlängen Entfernung verstehen und wiederholen können. Gelingt dies nicht, so ist er unschuldig, denn eine böse Zunge ist mächtiger als bloße Flammen. Verstehen ihn die Zeugen aber, so wird ihm die Zunge herausgeschnitten und das Schandmaul aus dem Dorf gejagt!
Stimmen des Imperiums
Wer bei offenem Fenster schläft, dem fliegen die Träume davon.
Alte Redensart im Imperium
Im Verlauf der langen Existenz des Imperiums mit seinen gewaltigen Städten und schier unbegrenzten Nährböden für Gerüchte jeglicher Art wurde, soweit sich das noch feststellen lässt, bereits in den Jahrtausenden der ersten Ära entdeckt, dass stets ein gewisser Anteil der Menschen über ein ungewöhnliches Talent zur Verbreitung und Realisierung von Gerüchten verfügten. Nach Meinung der imperialen Gelehrten standen diese sogenannten Phemeurgen damit trauriger weise genau zwischen dem grauen Brei des Bevölkerungsdurchschnitts und denjenigen, die in sich die notwendige Kombination von Phantasie und Willensstärke trugen, welche sie unter geeigneter Anleitung zu echter Magie befähigen würde! Dieser Weg war Phemeurgen hingegen – wie viele tragisch endende Versuche zeigten – grundsätzlich verschlossen. Sie konnten sich nicht über eine merkwürdig vorbewusste Beeinflussung der Wirklichkeit hinaus entwickeln. Gleichzeitig stellte man fest, dass Phemeurgen aber auch nicht direkt wissentlich Lügen verbreiten können – jedenfalls nicht so, dass diese als semi-magisches Gerüchte Wirkung auf die Wirklichkeit haben würden, denn anscheinend wurde das Talent eines Phemeurgen nur dann aktiv, wenn er oder sie selbst zumindest einen gewissen Glauben an die Wahrheit eines Gerüchtes aufbrachte! Aber auch das erschien den imperialen Gelehrten und Magiern nur als geringer Trost. Daher entstand eine bis heute übliche Praxis: In jeder imperialen Stadt unterhalten einige, meist sehr alten Häusern zugehörige, Daemonologen ein privates Gehege mit ganz speziellen, als Traumtrinker bekannten Servitoren. Diese Sperlingsgroßen Flugreptilien haben einen an Schmetterlinge erinnernden Saugrüssel, mit dem sie zur ihrer Ernährung durch die Ohren oder Tränenkanäle von menschlichen Träumern in deren Gehirn vordringen. Von dort entfernen sie dann nicht nur alle hartnäckigen Alpträume, – was, so weit bekannt, als willkommen angesehen wird – sondern suchen auch nach jeglicher Spur von Phemeurgentalent, welches dann ähnlich radikal entfernt wird. Selbst mit dieser Art halbstaatlicher Pseudolobotomie mangelt es natürlich nicht an einflussreichen Gerüchten im Imperium, aber die Mehrheit der Daemonologen glaubt fest daran, dass es ohne die Traumtrinker viel schlimmer wäre. An dieser Stelle wird dann gern auf die Überlieferung von der Stadt der Technosophen verwiesen: Angeblich hatten die Technosophen der ersten Ära mit ihren Machina irgendwo in der Wildnis eine eigene Stadt errichtet, die von einem gesichtslosen Rat der Technosophen fast völlig autonom regiert wurde – bis ein Phemeurg das Gerücht in Umlauf brachte, dass diese Stadt gar nicht existieren würde. Was in den folgenden Monaten genau geschah, ist unklar und umstritten, aber sogar die weisesten Technosophen können heute nur noch feststellen, dass diese Stadt wohl einst existiert hat, man aber nun nicht einmal mehr ihren Namen kennt, geschweige denn ihre Lage…
Stimmen des Nordens
„…sicher, wir waren dankbar! Aber bevor diese Hexe uns wieder verließ, da – das schwöre ich euch – erhaschte ich einen Blick in ihren Rucksack, aus dem ich immer dieses Flüstern gehört hatte: und der war einfach nur voller Steine!“
Rulik Vreyn, ehemaliger Tavernenwirt in Nhastrand
Angesichts der dünn besiedelten, nahezu menschenlosen Weite des Nordens verwundert es nicht, dass nur in den fünf großen Städten und im Gebiet des ehemaligen Bhaltarischen Reiches, also im Umfeld des Nebelmeeres, die Macht übernatürlich aufgeladener Gerüchte überhaupt als ein nennenswertes Problem bekannt ist. Dort bestimmen bis heute vor allem alte Traditionen der Thuul und der Ladchoum den Umgang mit den sogenannten Wurdscheltern. Allgemein wird erzählt, dass ein Wurdschelter auf zweierlei Weise entstehen kann: Entweder, weil ein Kind, welches eigentlich zum Seyder oder Galder bestimmt war, so sehr misshandelt oder vernachlässigt wird, dass seine Seele verkümmert und nur noch ein bösartiger Rest ihren ursprünglichen Kraft zurückbleibt. Oder aber, indem ein Mensch mit besonders schwachem Willen und geringem Mut im Schlaf von den Geistern eines verfluchten Ortes heimgesucht wird, die sich dann in ihm einnisten und seine Gerüchten fortan eine von Hass, Eifersucht und Furcht getriebene Macht verleihen, welche die Menschen ins Unglück stürzen soll. Gemeinhin glaubt man, dass auch nur Seyder oder Galder einen Wurdschelter einwandfrei identifizieren können, doch auch einige Runengelehrte und sogar manche Kräuterkundige der Ladchoum verfügen über entsprechende Mittel und Wege. Einmal aufgespürt bleibt allerdings die Frage, wie mit dem Wurdschelter zu verfahren ist – d.h. wenn ihn nicht ein von den Gerüchten geschädigter einfach erschlägt. Folgt man den Traditionen der Ladchoum, so löst sich das Problem, indem die fragliche Person einfach für den Rest ihrer Tage einer Art Diät aus ausgewählten Pilzen und Kräutern unterworfen wird, die ihr jeden Antrieb zum Verbreiten von Gerüchten nehmen – allerdings oft auch sonst jede Art von Antrieb. Häufiger wird allerdings nach einem Galder gerufen, der in langen mühsamen Ritualen und Beschwörungen versuchen wird, die geschädigte Seele des Wurdschelters zu heilen und von fremden Geistern zu befreien. Manchmal endet dies allerdings nur damit, dass der Galder einen wohlwollenden Geist auf Lebenszeit als Wächter an den Wurdschelter bindet, dem er dann als buchstäbliche Stimme seines Gewissens dient! Es soll allerdings hin und wieder auch zu Fällen gekommen sein, in denen die Wurdschelter sich tatsächlich ihrer Macht bewusst wurden und Gefallen an ihr fanden, so dass jahrelang sie von Ort zu Ort wanderten, nur um ganze Städte und Regionen zu ihrem Vergnügen leiden zu lassen. Doch in jeder derartigen Erzählung erscheint irgendwann ein fremder Seyder, der behauptet, er gehöre zu den „Schülern der sprechenden Steine“. Es wird nie erwähnt, was genau dieser Seyder dann unternimmt, aber am Ende wandert der Seyder wieder in die Wildnis während der ehemalige Wurdschelter mit „der leeren Seele eine neugeborenen Kindes“ zurückbleibt…
Mögliche Aspekte:
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