Das Imperium ist uralt und dekadent, aber dennoch ist seine Kultur nicht annähernd so verknöchert und verrottet, wie es eigentlich nach so vielen Millennien zu erwarten wäre. Ein gewichtiger Grund dafür dürfte die traditionelle „tabula rasa“ Politik zu Beginn einer jeder neuen Ära sein. Aber selbst wenn in Abständen von zwei bis drei Jahrtausenden immer wieder unzählige Überlieferungen und Traditionen des Imperiums dem Beginn einer neuen Ära zum Opfer fallen, so entkommen auch stets einige Gebräuche dieser brutalen Reinigungsaktion – nur, um dann spätestens mit dem Wechsel zur folgenden Ära zu verschwinden. Manche Sitten haben sich jedoch von Ära zu Ära durch den größten Teil der Geschichte des Reiches hinweg erhalten können, so dass aus ihnen einige der bizarrsten und kompliziertesten Elemente der imperialen Zivilisation entstehen konnten. Wer nun nach Beispielen für ein derartiges Element sucht, der wird so schnell kaum ein besseres Exemplar finden als die angeblich über siebentausend Jahre alte Sprache der Dorontik – die Sprache der Präsente.
Schriften des Imperiums
§809b Weiterhin gelten alle silbernen oder silberfarbenen Präsente (nicht aber Verpackungselemente oder Überbringer) während der drei Tage des Silberneumonds als negiert gemäß der Definitionen in §11 und §94.
§810 Alle Präsente dhelyrischer Herkunft (nicht aber Verpackungselemente oder Überbringer) gelten als unabweisbar im Sinne der Deutungstabelle XIV (Anhang zu §§5-23)
Auszug aus der Sammlung der Elementaren Definitionen und Regeln der reformierten imperialen Dorontik, Band I.
Während gewöhnliche Geschenke im gesamten Imperium über alle Zeiten und Schichten hinweg zu den unterschiedlichsten Anlässen überreicht wurden und werden, bezeichnet man mit „Präsenten“ üblicherweise nur die Geschenke des Adels. Diese werden primär auch nur innerhalb adliger Kreise ausgetauscht, aber es kommt doch hin und wieder zu Präsenten, die für nicht-adlige Freunde, Geschäftspartner, Geliebte, Angestellte oder sogar Sklaven bestimmt sind! Nur selten gibt das den Beschenkten jedoch Anlass zur Freude – im Gegenteil. Mehr als ein niedrig geborener Empfänger eines Präsents stürzte schon in einen Strudel aus wilden Spekulationen, zwanghaftem Grübeln und wachsendem Verfolgungswahn, der ihn schließlich in das erlösende Dunkel des Freitodes sinken ließ. Die Ursache für solch scheinbar irrsinniges Verhalten ist die sogenannte Sprache der Präsente: Die genaue Art und Weise, in der welche Art von Präsent an wen und unter welchen Umständen überreicht wird, unterliegt in den Adelskreisen des Imperiums einem derart komplexen Regelwerk aus Ver- und Geboten, aus geheimer Symbolik, merkwürdigen Bewertungskriterien und halbvergessenen Gesetzen, dass bis heute jedes Adelshaus eigene Experten für diese Angelegenheiten unterhält. Diese Experten sind meist selbst Mitglieder des Adels, aber in frisch aufgestiegenen Familien des Geldadels kommt es auch vor, dass speziell ausgebildete, doch nicht adlige Gelehrte diese Rolle übernehmen. Ja, in Zeiten besonders intensiver Präsentübergaben und politischer Intrigen können sich manchmal auch unabhängige Fachleute in dieser eigenartigen Kunst ihren eigenen Adelstitel verdienen. Die besagte Kunst wird dabei von vielen eher als eine Art hochkomplexer Sprache angesehen. Gemeinhin spricht man diesbezüglich von der Disziplin der Dorontik, welche sich mit allen Umständen, Regeln und Bedeutungen zu Präsenten, ihrer Übergabe und Annahme befasst. Bei den selten auftretenden Streitfällen wird sogar ein neutraler Dorontiker angerufen, der als eine Art Schiedsrichter agiert und auf den sich die Adelsfamilien der jeweiligen Stadt stets im Voraus geeinigt haben. Der so bestellte Dorontiker überwacht jeden Austausch von Präsenten und verzeichnet ihn in einem speziellen, in schwarzes Leder gebundenen Folianten. Die Notwendigkeit eines solchen Amtes wird deutlich, wenn man die Möglichkeiten dieser Sprache realisiert: Durch die Kombination von Dingen wie Verpackungsmaterial und Farbe des Präsents, Zahl, Kleidung, Alter und Geschlecht der Überbringer, sowie der genauen Art und Beschaffenheit des eigentlich verschenkten Objekts, können offensichtliche Danksagungen, Beleidigungen und Bitten ebenso mitgeteilt werden wie subtile Liebeserklärungen, Morddrohungen oder Bündnisvorschläge – und dies oft auch alles in Kombination miteinander! Kommt es dann zu Missverständnissen seitens des Empfängers, so resultiert dies leicht in unangemessenem Verhalten bei der Annahme des Präsents oder gar bei der Auswahl des jeweiligen Gegengeschenks. Solche Verfehlungen haben im Lauf der Geschichte immer wieder zu blutigen Familienfehden und der Auslöschung ganzer Adelshäuser geführt, wobei das Schicksal der armen Nichtadeligen, die ihrer Unkenntnis der Dorontik zum Opfer fielen, meist schlicht in Vergessenheit geriet.
Stimmen des Imperiums
„…du solltest mir besser zuhören, lieber Großneffe! Der Doronax ist keineswegs ein Ammenmärchen seniler und drogenumnebelter Hofschranzen! Eines Tages wirst du vielleicht unserem Haus vorstehen – und vielleicht wirst du dann einmal ein Präsent erhalten, das von merkwürdigen kleinen Servitoren überbracht wird, die du noch nie gesehen hast. Bete dann besser zu allen Göttern, dass zu dem Präsent keine schwarze Perle gehört, in der ein silbriger Stern zu funkeln scheint…“
Urgraf Zheremjed Khir XXXVII, Kurdespot von Manto
Die von den Adelshäusern vor Ort bestimmten neutralen Dorontiker führen traditionell genau Buch über alle während ihrer Amtszeit ausgetauschten Präsente, da es bei ernsthaften Streitigkeiten nötig werden kann, diese über Jahre hinweg zurückzuverfolgen und gegeneinander aufzurechnen. Angeblich werden Kopien dieser Akten sogar in regelmäßigen Abständen in den imperialen Palast gesendet, wo eine Art Zentralarchiv aller jemals überreichten Präsente existieren soll. Zumindest in den älteren Adelshäusern geht man sogar davon aus, dass es wenigstens seit der Ära des Wohlverdienten Reichtums einen einzigen, für das gesamte Imperium verantwortlichen Dorontiker gibt, der diesem Archiv vorsteht. Das Archiv des Doronax, wie dieser ranghöchste aller Dorontiker genannt wird, soll aber nicht im Copal, sondern an einem geheimen Ort zu finden sein, an dem der Doronax residiert – umgeben von einer Armee eigens für ihn geschaffener Servitoren. Diese angeblich sehr kleinen Servitoren sollen manchmal gesichtet worden sein, wie sie die hochbetagten neutralen Dorontiker einer Stadt kurz vor deren Tod aufsuchten, um eine Kopie ihrer Präsentaufzeichnungen zu erhalten, die sie dann wohl jeweils in das Archiv des Doronax überbringen sollten. Vor allem in den jüngeren Häusern des Geldadels gilt dies allerdings als bloße Legende, was sich schließlich besonders darin zeige, dass der Doronax angeblich all denen, welche die alten Regeln der Präsente ignorieren oder gar allzu schamlos für ihre Zwecke missbrauchen, eine riesige dhelyrische schwarze Perle sendet – als letzte Warnung. Denn in der Perle soll ein sternförmiger Einschluss funkeln, der in Wahrheit nichts anderes ist, als die ewig eingeschlossene Seele eines anderen Frevlers wider den Geist der Präsente! Kein Zweifel herrscht hingegen daran, dass die verschiedenen Häuser der Assassinengilde jeweils eigene, hochspezialisierte Dorontiker ausbilden, die in der Lage sind, durch kaum merkliche Manipulationen von Präsenten Bündnisse zu zerstören, Duelle zu provozieren oder kostspielige Entschädigungen zu erzwingen! Derartige Gefahren und mögliche Komplikationen haben schließlich in vielen Adelshäusern sogar dazu geführt, dass empfangene Präsente zur Sicherheit zunächst nur eingelagert werden, um sie später vielleicht noch einmal zu untersuchen oder im Originalzustand zurückgeben zu können. Dummerweise locken die eigens für die Lagerung reservierten Räume und Gebäude jedoch oft ehrgeizige Diebe an, so dass ein solches als Basileum bekanntes Konstrukt meist einer Mischung aus Panzerschrank und Festung ähnelt – ein kostspieliges Unterfangen, das wiederum nicht jede adlige Familie zu finanzieren bereit oder in der Lage ist. Solche Familien sollen dann häufig zur preiswerten, doch schwierigen Methode der Sicherung durch Geheimhaltung greifen, indem sie längst verlassene Wüstensiedlungen, verborgene Berghöhlen oder gar Orte jenseits der imperialen Grenzen für ihre eigenen Basileen nutzen…
Mögliche Aspekte
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