Stimmen der Waismark
„Ihr könnt sagen, was ihr wollt: Heilig hin oder her. Niemand ist mir geheuer, der mitten im Sommer den ganzen Mittag über in der Sonne stehen und dabei ununterbrochen Tränen vergießen kann! Selbst ihr sogenannter Anführer hat in der gesamten Zeit nicht einen Schluck getrunken, obwohl ihm die Dorffrauen immer wieder etwas angeboten haben – kein Wasser, kein Wein, kein Bier, keine Milch, nichts! Vielleicht glauben die einfältigen Bauern in manchen Gegenden ja, dass es ihnen besser ergeht, seit diese Heulbojen und Klageweiber in ihren Dörfern waren, aber mir bleiben die unheimlich. Hätte ich den erbärmlichen Hof von meinem alten Herren geerbt – wovor mich meine flinken Füße damals bewahrt haben –, so würd ich solche Besucher lieber hinterrücks erschlagen und bei Nacht unter den Acker pflügen: das gibt garantiert auch ne gute Ernte!“
Jenser Braam, berüchtigter Wegelagerer zwischen Gelwygh und Andinas
Es ist schwer, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, an dem die Gemeinschaft der Trauernden zum ersten Mal in den Ländern der Waismark gesichtet wurde, aber allem Anschein nach sind selbst die dünnsten Gerüchte über diese rätselhaften Pilger nicht wesentlich älter als zwei oder drei Jahre. Zumindest geographisch lässt sich jedoch ihr Ursprung etwas schärfer eingrenzen: Alle Berichte über die Trauernden sind sich einig, dass sie zuerst in entlegenen Tälern und einsamen Dörfern im äußersten Südwesten der Waismark gesichtet wurden. Dabei hat sich weder ihr Aussehen noch die Art ihres Auftretens im Laufe der Zeit oder über die verschiedenen Geschichten hinweg je merklich geändert. Stets taucht in der Nähe einer kleinen Siedlung ein Trupp in graue Kutten gehüllter Wanderer auf, der in einer drei Mann breiten Kolonne mit geradezu militärischer Präzision die Straße entlang marschiert bis er schließlich inmitten der besagten Siedlung ankommt. Dort bilden die verhüllten Gestalten eine lange Reihe entlang einer Straßenseite, vor der sich nur ihr jeweiliger Anführer, der sogenannte „Rufer“ aufbaut. Während alle anderen dann im Schweigen verharren beginnt der Rufer damit, eine kleine Handglocke zu läuten und dabei einen scheinbar inhaltslosen Singsang anzustimmen – ein Singsang, der dennoch in ausnahmslos allen Erzählungen als unsagbar traurig, verzweifelt und mitleiderregend beschrieben wird. Der Rufer verstummt angeblich erst wenn ihn irgendwer anspricht. Diese Person fragt er dann, ob sie seinen Segen wünscht. Wird diese Frage bejaht, so lässt der Rufer noch einmal seine Glocke erklingen und drückt dabei seinen rotgefärbten Daumen auf Hand oder Stirn des Gesegneten, dem so ein kleines rundes Mal erhalten bleibt, welches kaum abwaschbar und oft Monate danach immer noch erkennbar ist. Aber gleichgültig wer ihn danach um denselben Segen bittet: jeder Rufer erteilt seinen Segen immer nur einmal in einer Siedlung – und immer nur an die erste Person, die ihn darum bittet. Erklärt wird dies nicht weiter, so wie weder der Rufer noch die anderen Mitglieder einer Prozession von Trauernden jemals irgendwelche Erklärungen abgeben. Überhaupt stimmen die meisten Geschichten darin überein, dass nur der Rufer überhaupt je in irgendeiner Form mit anderen Menschen spricht, die den Trauernden begegnen. Allerdings mangelt es nicht an Berichten, denen zufolge die Trauernden hier und dort auf einsamen Waldlichtungen und inmitten alter Ruinen beobachtet wurden wie sie im Kreis stehend lange, leise geflüsterte Gespräche zu führen scheinen, deren Inhalt den jeweiligen Zeugen aber in jedem Fall verborgen blieb. Gegenüber Laektoren und anderen Würdenträgern der trisantischen Kirche zeigen sich die Trauernden und insbesondere ihr Rufer allem Anschein nach immer voller Respekt und Achtung, doch sie behaupten nie, irgendeinem bestimmten Orden anzugehören und erzählen auch nie, wann und von wem sie gegründet wurden. Bisher sind sie in keiner der großen Städte oder auf einer der Inseln gesichtet worden und es gibt auch keine offizielle Position der Kirche zu diesen sogenannten Pilgern, aber dennoch eilt ihnen der Ruf voraus, eine Vereinigung zu sein, in der nur die frommsten und treuesten Kinder der Kirche zuhause sind. Vielerorts wird in diesem Zusammenhang auch ihr Brauch gelobt, elternlose oder an Körper und Geist schadhafte Kinder ganz ohne Entschädigung in ihre Reihen aufzunehmen und sie aus Gemeinden, in denen diese sonst keinen Platz hätten, herauszuführen! Dies geschieht jedoch nicht wirklich ohne Ausnahme, denn in jedem einzelnen Fall schaut der Rufer angeblich tief in die Seele des Kindes hinein – und wenn er dort zu viel Schwäche und Unreinheit entdeckt, so wird es einfach an Ort und Stelle zurückgelassen. Viele glauben auch, dass es solche gescheiterten Fälle sind, die der Grund für das bekannteste Merkmal der Trauernden sind: sie weinen. Dauernd. Alle. Lautlos und ohne Pause rinnen ihnen Tränen übers Gesicht – nur Rufer sollen noch nie mit Tränen gesichtet worden sein, geben aber auch dazu keine Auskunft. Hingegen enden Geschichten über die erfolgreiche Mitnahme von Kindern häufig mit einem nirgends sonst zitierten Spruch aus dem Munde des jeweiligen Rufers: „Und wieder rückt der Tag näher, an dem unsere Trauer endet und die Tränen nicht länger fließen müssen…“
Stimmen der Waismark
„Schweigt! Euer Geheul und Geschwätz wird gar nichts bewirken. Glaubt mir: erst wenn es uns gelingt, die Trauernden in unser Tal zu locken – wo wir sie natürlich mit Respekt behandeln und ihnen irgendeinen armen Bastard überlassen werden –, erst dann wird diese Krankheit wieder von uns ablassen! Denkt nur an die Dinge, welche im letzten Herbst aus dem Grauen Moor kamen. Auch da wurden Graeord und die umliegenden Höfe erst erlöst, nachdem die Trauernden sie besucht hatten…“
Irsula Haenval bei einer Dorfversammlung in Aeldhov, etwa drei Tage südwestlich von Maenyff
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