Schriften des Imperiums
Das Phänomen der von Meister Nyara so genannten Graumondfurcht hat, wie meine Forschungen in Lyssa ergaben, eine auffällig unsinnige und von Geistesschwachheit zeugende Sitte in den übelsten Elendsvierteln und dunkelsten Kanälen der Stadt inspiriert. Aus unerfindlichen Gründen verkriechen sich die Einwohner dieser Bezirke, welche doch eh kaum je den Himmel erblickt haben, zur fraglichen Zeit in ihren ärmlichen Behausungen – nachdem sie zuvor alle Zugänge zu den am tiefsten verlaufenden Kanälen verbarrikadiert haben! Als ob dort unten Tag oder Nacht, Mondlicht oder Neumond irgendeinen Unterschied machen würden…
Omeches Lemanim der Jüngere, Über Glauben und Aberglauben der niederen Schichten, Gesammelte Schriften über seelische und sittliche Abnormitäten
Geht man während der Graumondnacht durch eine der großen Metropolen des Imperiums, so fällt rasch auf, dass selbst sonst belebte Straßen nahezu menschenleer sind und kleinere Gassen und Wege regelrecht ausgestorben wirken. Aber auch wenn es unzählige Ammenmärchen behaupten, so liegt dies doch nicht an einer weit verbreiteten Angst vor den Horden von Geistern und Untoten, die zu dieser Zeit ihr Unwesen treiben sollen. In Wahrheit meiden die gewöhnlichen Bürger „nur“ alle Straßen und Plätze unter offenem Himmel, um nicht eine der Wesenheiten anzulocken, die zu dieser Zeit hoch über den Städten zu den Türmen der Daemonologen gerufen werden. Genau genommen sind allerdings nicht alle und nicht nur Daemonologen während der Graumondnacht besonders aktiv. Einerseits nutzen auch manche Alchemisten die besondere Astrologie der Fünf Grauen Monde aus, andererseits scheinen sowohl unter Magiern wie auch Alchemisten nur die Angehörigen bestimmter alter Blutlinien über das rechte Maß an Wissen, Willen oder Wahnsinn zu verfügen, um derartige Kräfte zu manipulieren. Alchemisten versuchen dabei meist, irgendeine besonders ungewöhnliche Art von Servitoren zu erschaffen, indem sie etwa totes organisches Gewebe mit mechanischen Elementen verbinden oder halb körperlose Gebilde aus dem heraus kondensieren und destillieren, was sie den „translunaren Äther“ nennen.
Schriften des Imperiums
…ich werde dem Hyparchen wohl schonend beibringen müssen, dass die Analyse der Körpersäfte seiner jüngsten Tochter eindeutig ergeben hat, dass dieses hübsche Kind den Familienfluch seines Hauses geerbt hat. Da sie kürzlich ihre erste Blutung erfuhr, bedeutet dies jedoch für die bevorstehende Graumondnacht leider unbarmherzige Fesselung und Kerkerhaft für das arme Mädchen! Ihre übersensible Mutter stammt aus Realgar und wird solche Maßnahmen wohl kaum gutheißen, aber die Alternativen wären natürlich noch weit schrecklicher…
Thulyan Ybass, medizinischer Alchemist und Astrologe, in seinem letzten Brief an seine Frau
Wenn es um alte Blutlinien geht, stellt sich unweigerlich alsbald die Frage nach dem Imperator. Über die Jahrtausende entstammten die Herrscher des Imperiums zwar nicht alle derselben ungebrochenen Ahnenlinie, aber es gilt schon als sehr wahrscheinlich, dass die meisten von ihnen als Sprösslinge uralter Adelsfamilien das Licht der Welt erblickten. Das scheint jedoch nicht zu ungewöhnlichen Begabungen im Bereich der Magie oder Alchemie geführt zu haben, denn entsprechende Talente waren unter der langen Reihe der Imperatoren nicht häufiger oder stärker vertreten als sonst allgemein in Adelskreisen üblich. Die Graumondnacht weckt allerdings – soweit bekannt – in jedem Imperator ein erhebliches Interesse an magischen, alchemistischen und astrologischen Techniken. Traditionell schließen sich die meisten Herrscher des Reiches schon in den Tagen vor dem Erscheinen der Fünf Grauen Monde im Nordflügel des Copal in den sogenannten Schattendom ein, umgeben von mächtigen Schutzsymbolen und geschmückt mit einem Stirnreif aus schneeweißem Kristall, der angeblich Teil einer einzigartigen Machina sein soll, die im Zentrum des Schattendoms steht. Der eigentliche Grund für dieses Verhalten ist unklar und daher ein beliebtes Streitthema unter Gelehrten, welche die rechte Kombination aus Langeweile, Neugier, Diskretion und Tollkühnheit aufweisen, um offen über Taten und Motive des Imperators zu diskutieren. Zwei Theorien zu diesem Thema sind seit Jahrzehnten besonders beliebt: Die eine geht davon aus, dass die unzähligen Seelen der ehemaligen Herrscher vom Totengott Mhot an die idyllischen Ufer eines riesigen spiegelnden Sees auf dem Silbermond gesandt werden, wo sie die Ewigkeit in Glück und Weisheit verbringen, da sie für eine Wiedergeburt zu vollkommen geworden sind. Doch wenn einmal im Jahr der Silbermond im Dunkel liegt während die Grauen Monde alle am Himmel stehen, dann geraten die Seelen der Imperatoren in Unruhe und sie suchen überall nach einer neuen Heimat – und natürlich zieht es die Seelen so zum Körper des einzig lebenden Imperators, der allein würdig und vollkommen genug ist, um sie vielleicht aufzunehmen. Zur Abwehr des drohenden Wahnsinns tausender in seinen Körper strömender Seelen, muss sich der Imperator daher mit allen möglichen Mitteln der Magie und Technosophie schützen, was dann zu der bekannten Zeit der Isolation im Dom der Schatten führt! Die Anhänger der zweiten Theorie halten die alles natürlich für Unsinn, denn sie glauben, dass der Imperator weniger sich selbst als vielmehr alle Menschen durch sein Tun schützen will. Das ist nötig, da ohne das bannende Licht des Silbermondes die gemeinsame Kraft aller Grauen Monde sonst genügen würde, um die letzten Entitäten, welche nach dem Krieg der Monde dort auf ewig zurückgelassen wurden, wieder in irdische Gefilde hinabsteigen zu lassen. Verhindert wird dies nur durch den eisernen Willen des Imperators, der allein befähigt ist, die mächtigste aller Machina – den Copal – zu kontrollieren, damit sie ihrerseits für die kurze Zeit der Graumondnacht einen schützenden Schleier um die Welt legen kann!
Stimmen des Imperiums
Wer fernab der Städte und hohen Türme glaubt, er wäre in dieser Nacht sicher, nur weil die perversen Auswüchse irgendwelcher größenwahnsinniger Experimente ihn dort nicht erreichen können, der irrt. Denn in den staubigen Weiten des Kernlandes warten mancherorts noch weit gefährlichere Dinge darauf, ihren langen Schlaf unter dem Wüstensand oder den Trümmern vergessener Paläste zu beenden! Die leblosen Schatten der Grauen Monde geben ihnen Kraft – sie rufen nach ihnen: nach uralten Dienern ebenso wie nach denen, die nach ihrem Bilde geschaffen wurden. Glaubt mir. Zu jeder Graumondnacht kommt etwas aus dem Dünenfeld im Süden und sucht nach Opfern. Hinter diesen alten Mauern und ihren Siegeln seid ihr sicher, aber wenn ihr heute Nacht noch weiter reist, dann werden nur eure Schreie in Anosia ankommen!
Al‘Urum Zey, greiser Besitzer der Bunkerkarawanserei von Cherm
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