Es ist weithin bekannt, dass praktisch jedes Element im Leben des imperialen Adels letztlich nur Bestandteil eines kapriziösen Stroms der Launen und Moden ist, der einem ewigen Krieg mit den Kräften von Ödnis und Langeweile entspringt. Fälschlicherweise wird daher oft auch angenommen, es gäbe in den Palästen der Hyparchen und Plutonen überhaupt keine echten Traditionen, aber an diesen mangelt es keineswegs. Natürlich ist das ganze Konzept der Tradition vor allem in den Reihen des alten Blutadels lebendig, aber dies lässt den neureichen Abkömmlingen des Geldadels gewisse überlieferte Gebräuche nur umso faszinierender erscheinen – vor allem, da manche von ihnen nur auf erbärmliche vier oder fünf adlige Generationen ihrer Familie zurückblicken können! Nicht zuletzt wegen dieser fast zwanghaften Fixierung auf die jeweils eigenen Vorfahren, finden sich dann auch gerade im Umfeld von Sterben und Tod eine ganze Reihe wirklich alter Traditionen, von denen manche ihre Ursprünge sogar bis in eine längst vergangene imperiale Ära zurückführen können! Eine dieser besonders alten Traditionen sind die sogenannten Epiglypten: kleine, ungemein lebensechte Statuen, welche jeweils nach dem Bilde eines verstorbenen Adligen gestaltet werden.
Stimmen aus dem Imperium
„…ich breche also diesen Alabasterkoffer auf – und was ist drin? Das perfekte Ebenbild von Ilonzios dem Schönen!!! So wie er auf den alten Gemälden zu sehen ist! Das Ding hatte richtige Kleider und Haare – aber sogar die Haut fühlte sich warm an, obwohl wir alle sehen konnten, dass die offenbar aus modelliertem Elfenbein gemacht war! Na, und dann fing das Teil an zu sprechen – und nicht nur das: es kommandierte uns herum wie Sklaven! Also hab ich mir die Puppe geschnappt und wieder in den Koffer geworfen, um dann selbigen erst einmal in Saerbios Keller zu verstecken. Aber am nächsten Abend, da fanden wir Saerbio und seine Familie zerfetzt und verstümmelt wie von riesigen Klauen und Zähnen in ihrem Haus verstreut – und im Keller lag der Alabasterkoffer offen und leer in einer Ecke…“
Ghilkan das Gecko, bekannter Dieb während eines Saufgelages in Lyssa
Neu angefertigte Epiglypten sind heutzutage außerordentlich selten, aber es gilt als sicher, dass noch in der vorhergehenden Ära des Goldenen Rates zumindest in Lyssa viele Familien des Hochadels die meisten ihrer Mitglieder nach deren Tod in derartiger Weise verewigen ließen. Ursprung und Blütezeit der Epiglpyten lagen jedoch wohl in der zweiten Hälfte der davor liegenden Ära des Wohlverdienten Reichtums. Damals soll ein Künstler namens Tyxander – manchmal als „Sternenhand“ bezeichnet – die grundlegenden Verfahren zur Herstellung der Epiglypten entwickelt haben. Angeblich wurden in den folgenden Jahrhunderten abertausende dieser Figuren, die bis zu einer Elle groß sein konnten, in dem heute als „Die Felder“ bekannten Stadtteil von Lyssa in Grabmälern untergebracht, die ihrerseits die Form von Miniaturpalästen hatten. Natürlich verbreitete sich diese Sitte auch im übrigen Imperium, wobei die genaue Verwendung und Platzierung der Epiglypten ganz unterschiedlich gehandhabt wurde. So soll es eine Zeitlang in vielen Hafenstädten üblich gewesen sein, die Epiglypten adliger Reeder und Admiräle – denn die gab es damals noch – an Bord seetüchtiger Schiffsmodelle aus Elfenbein und exotischen Hölzern eine letzte Reise auf den offenen Ozean hinaus antreten zu lassen! Das genaue Geheimnis der Herstellung dieser puppenartigen Figuren, die in vielen Fällen sogar zu selbständiger Bewegung fähig sind und mit der Stimme ihres verstorbenen Vorbilds sprechen können, war damals wohl recht weit verbreitet, doch im gesamten heutigen Imperium soll höchstens noch ein gutes Dutzend Adelsfamilien über die nötigen Kenntnisse verfügen – und wahrscheinlich nutzt über die Hälfte von diesen ihr Wissen nicht. Warum genau diese Technik kaum noch genutzt wird, ist umstritten, aber die meisten diesbezüglichen Theorien gehen davon aus, dass der Grund etwas mit der Konstruktion der Epiglypten zu tun hat. Viele sehen nämlich den Ursprung für die lebensechte Stimme und Bewegung der „Puppen“ in alchemistisch behandelten Körperteilen des Verstorbenen, welche irgendwie in der Figur eingeschlossen oder sogar direkt zu ihrer Herstellung genutzt werden. So soll eine Verbindung zu Seele und Bewusstsein des Toten hergestellt werden, damit er seiner Familie nie wirklich ganz verloren gehen kann. Die meisten jüngeren Epiglypten, also Exemplare aus den letzten drei- bis vierhundert Jahren, scheinen kaum noch über die legendären sprachlichen Fähigkeiten ihrer klassischen Vorläufer zu verfügen, aber ob dies absichtlich oder aus Mangel an Kunstfertigkeit geschieht, bleibt das Geheimnis gewisser Adelskreise. Angeblich soll es aber uralte Epiglypten geben, die selbst nach Jahrtausenden noch so sprechen und agieren, als ob wahrhaft die Seele eines längst verstorbenen Adligen in ihnen wohnt – und die bis heute in winzigen Puppenpalästen in den Feldern oder in verborgenen Palastgärten und luxuriös möblierten Vitrinen ihr morbides Scheinleben führen. Es mangelt auch nicht an Gerüchten über gewisse Adelshäuser, die so seit ungezählten Generationen immer von denselben unsterblichen Puppeninkarnationen ihrer einst lebendigen Oberhäupter regiert werden, was für einige dann auch die wahre Ursache für die Stagnation und den Wahnsinn des Hochadels darstellt – auch wenn sie dies natürlich kaum jemals in Gesellschaft äußern würden. Offen bleibt dabei die Frage, ob es auch jemals Daemonologen oder Alchemisten unter den Adligen gab, die in solchen Duplikaten verewigt wurden – ganz zu schweigen von den Auswirkungen, die so eine Praxis wohl haben würde. Aber selbst wenn es nicht direkt um vergessene Beschwörungen und sagenhafte Formeln gehen sollte, so gibt es doch alle paar Jahre Geschichten über langwierige und blutige Suchaktionen nach den Epiglypten diverser, schon lange verstorbener hoher Würdenträger, die leider so taktlos waren, ihr Lebenslicht auszuhauchen, ohne zuvor auch wirklich alle ihre Familienschätze und Geheimnisse in der treuen Obhut ihrer lieben Erben zu lassen…
Schriften des Imperiums
…empfehlen daher dringend, den im Anhang aufgeführten Blutlinien und Personen, sowie deren Nachkommenschaft, die Anfertigung eines tyxandischen Tymboprospon – insbesondere unter Verwendung organischer Reste des Urbildes – unter Androhung der Verbannung oder Enteignung zu untersagen. Für strikt staatstragende Zwecke sollte jedoch zugleich überlegt werden, ob die so zu sichernde Erhaltung vitaler imperialer…
Einzig entschlüsselter Abschnitt eines einzelnen Blattes aus einer Art nicht brennbarem Papier, das in einer Ruine nahe dem Mondsee gefunden wurde. Wahrscheinlich aus dem ersten Jahrhundert der Ära des Goldenen Rates.
Mögliche Aspekte:
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