Die Fragmente

Malmsturm – Die Fragmente: Die Blutstimmen – das Erbe der Lytaen

Schriften der Waismark

…dennoch würde ich von der Planung einer forcierten Missionierung dieses primitiven Bergvolkes absehen. Nicht nur, um die angeführten Aufwendungen an Menschen und Material zu vermeiden, sondern primär angesichts ihrer geradezu als stumpf zu bezeichnenden Gleichgültigkeit gegenüber religiösen Ideen jeglicher Art, welche sogar unter den sogenannten Anführern und als „weise“ bekannten Männern der Lytaen allgegenwärtig erscheint. Ihre bizarren Hautzeichnungen stufe ich in diesem Zusammenhang somit nur als kindisch eitle Malereien ein, welche bestenfalls dadurch Sinn erhalten, dass sie zur Kennzeichnung eines gewissen schwammigen Verstehens von Rang und Ansehen genutzt werden. Für die Zukunft möchte ich allerdings bereits anmerken, dass gerade ihr schlichtes, halb tierisch und halb menschlich anmutendes Wesen die Mitglieder dieses körperlich durchaus robusten Volkes dazu prädestiniert, im Rahmen einer dereinst erfolgenden großflächigen Besiedlung und Kultivierung des äußersten Westens als kostengünstige Arbeitskräfte rekrutiert zu werden. Zu diesem Zwecke…

Laektor Arbeld Onhard in seinem Vom Rand der Welt – 2 Jahre im Westen. Interne Berichte Bd. MMMDCCLIX

 

 

Allgemein ist in der Waismark nur wenig über das Volk der Lytaen bekannt, auch wenn es natürlich an finsteren Legenden und Gerüchten jeglicher Art nie mangelt. Doch selbst bei den umlaufenden Gerüchten fällt auf, dass kaum je von einer eigenständigen Religion dieses kleinen Volkes aus den westlichen Ausläufern der Askarpen die Rede ist: Entweder wird stillschweigend davon ausgegangen, dass natürlich auch in den entlegensten Tälern die dreiheilige Kirche über alles wacht, oder man erzählt im Flüsterton grausige Geschichten über ihre heidnischen Riten, in denen sie mal den gefürchteten Alten Göttern, mal menschenfressenden Waldgeistern und mal den bizarren Götzen der Ghorgarden huldigen. Allerdings ist nichts davon auch nur ansatzweise wahr. Tatsächlich verehren die Lytaen keinerlei Götter, Geister oder andere übernatürliche Wesen – jedenfalls nicht im üblichen Sinne. Wer längere Zeit mit den Lytaen verbringt, der wird aber dennoch nach und nach den Eindruck erhalten, dass diese einen wichtigen Bereich ihrer Kultur nicht mit Fremden teilen oder vielleicht sogar jenen gegenüber geheim halten wollen. In den wenigen entsprechenden Berichten erscheint dieser Aspekt der lytaeischen Kultur meist als eine Art primitiver Mystizismus, bei dem es irgendwie darum geht, sein Leben nach einem geheimnisvollen Chor sogenannter Blutstimmen auszurichten oder dessen Lehren und Gebote durch krude symbolische Hautmalereien wiederzugeben. Tatsächlich sprechen Lytaen ab und an auch in Gegenwart Außenstehender von der  oder den „Blutstimmen“ und ihrem „Chor“, beziehen sich damit aber auf eine – zumindest für sie – sehr gegenwärtige und handfeste Realität.

 

 

Stimmen aus der Waismark

„…nicht schweigen: Singen! Singe den Schmerz zurück zu der Nadel in deiner Haut! Lass die Mondtinte tanzen – und lausche in dich hinein: halte die neue Klinge fest in der Hand und lausche in sie und in dich hinein. Und wenn du später schläfst, dann halte sie immer noch – und träume: von Blut, von Schmerz, von zehntausend tanzenden Kriegern in dir, von sich wandelnden Schatten, von der Freiheit der Nacht. Lausche dem Chor der Blutstimmen bis du eine der Stimmen wirst. Singe und lausche bis du die erste Stimme bist – dann wird der Chor dir folgen…“

Mondmeister Khulvai Yar während des Rituals der Ersten Einstimmung

 

 

Die Lytaen teilen ihre Geschichte nicht mit Angehörigen anderer Völker. Der Grund ist eine tief verwurzelte Mischung aus Scham und Sicherheitsbedürfnis, denn ihren eigenen Sagen nach, waren die ältesten Vorfahren der Lytaen einst eine vollkommen versklavte Nation. Ihre Herren werden nie mit Namen genannt und nur als Wesen von gottgleicher Macht und gnadenloser Grausamkeit beschrieben, die seit ewigen Zeiten Krieg führten und über wundersame Waffen und Werkzeuge verfügten. Einige davon waren beinahe lebendig und erfüllten jeden Wunsch der übermächtigen Herren. Den Lytaen jedoch war selbst die Berührung der meisten einfachen Werkzeuge und Klingenwaffen verboten, so dass dieses Verbot ihm Inneresten ihres Fleisches auf alle Zeiten verankert wurde. Die Wunderwerkzeuge hingegen durften sie jederzeit berühren, denn diese gehorchten nur dem Willen der Herren. So blieb den Ahnen der Lytaen nur die Verwaltung, Reinigung, Wartung und sogar Herstellung der Wunderdinge, denen sie aber nie befehlen konnten. Doch nach einem langen Zeitalter voller Kriege, da stellten einige der Ahnen fest, dass sie bei bloßer Berührung das Leben in den Wunderdingen spüren konnten – und sie ebenfalls erhört wurden! Denn inzwischen waren die Werkzeuge und Waffen teilweise mit den Körpern der Ahnen verschmolzen – so sehr, dass sie den Ahnen schließlich wie deren eigene Hände und Finger dienten. So ermächtigt wagten die alten Lytaen den Aufstand, doch obwohl ihre Herren zugleich einen großen Krieg führten, schlugen sie die Rebellion nieder und schlachteten alle Angehörigen des undankbaren Sklavenvolkes. Nur einer kleinen Schar gelang in drei gestohlenen Schiffen die Flucht in ein unsagbar fernes Land, wo ihre Kinder fortan im Schutz der Berge leben sollten. Kurz nach ihrer Ankunft aber lernten die Ahnen aus Zeichen im Nachthimmel, dass die Herren den letzten Krieg verloren hatten und ihr Land vernichtet worden war. Die Trümmer ihrer Flotten, Heere und Waffen wurden dabei in gewaltigen Feuerstürmen und Flammensäulen bis in den Nachthimmel geschleudert, aus dem nun hier und dort Teile der Wunderwaffen als Nachteisen zu Boden fielen. Dies sammelten die weisesten der Ahnen und hegten es sorgsam, auf dass es ihnen und ihren Kindern einst wieder dienen würde – und so geschah es. Heute sind Nachteisenfunde zwar selten und unbehandelt bleibt das Maeglith stumm und taub, aber die Einstimmung eines Trägers durch die aus gelöstem nachteisen bestehende mondtinte vermag es wohl zu erwecken. Mondmeister und Eisensänger erzählen dann, wie aus den sonst leise flüsternden Stimmen in ihrem Blut ein kraftvoll rauschender Chor erwächst, dessen Klang – so unhörbar er für normale Menschen auch sein mag – ihre Nachteisenwaffen zu wahrhaft lebendigen Kampfgefährten werden lässt, ihnen aber auch erlaubt, ihre von Mondtinte gezeichneten und durchdrungenen Körper wie Waffen aus Fleisch und Blut zu nutzen! So groß die Ehre einer Waffe aus Maeglith und einem mit Mondtinte kunstvoll tätowierten Körper für einen Lytaen allerdings auch sein mag, so selten erlauben Menge, Reinheit und Lebendigkeit des heute noch gefundenen Nachteisens einem Eisensänger das volle Potential der großen lytaeischen Sagengestalten zu erlangen. Daher versuchen manche in langen gefährlichen Ritualen, die Waffe eines direkten Vorfahren auf sich selbst einzustimmen, obwohl diese  traditionell mit ihrem Träger begraben bleiben sollte – und obwohl so schon viele den Tod oder schlimmeres fanden. Manch junge Lytaen träumen angesichts der ihren Tälern immer näher kommenden Straßen, Städte und Burgen aber auch von dem sagenumwobenen Nachterz, dem die Waffen aus Schattenstahl entstammen sollen: Keulen und Klingen von roher Majestät, in denen noch das ganze Leben der alten Herrenwaffen schlummert und die nur auf einen Krieger warten, mit dessen Blut sie zu einer mörderischen Naturgewalt verschmelzen können…

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