Schriften des Imperiums
So könnte es durchaus nach der ursprünglichen Ansiedlung der modifizierten Spezies durch Athirat (s. Anhang II, Kap. 3), eine oder mehrere spätere Invasionen durch unbewusst transferierte Exemplare aus den Wildpopulationen der diversen verwandten Arten aus den östlichen Inseln gegeben haben. Wir sehen darin aber keine aktuelle Problematik, insbesondere aufgrund der protektiven Wirkung der minimalisierten Schifffahrt seit Beginn der aktuellen Ära.
Auszug aus Band V der Sammlung neuzeitlicher Studien zu urbanen und sub-urbanen Lebensformen und anorganischen xenogenen Entitäten (nur für internen im Copal autorisierte Fassung)
Es gibt in der Ära des Exellenten Exils nicht mehr viele Gelehrte in den prächtigen Türmen des Imperiums, die noch Interesse an den technischen und historischen Eigenarten der enormen Kanalisationskomplexe unterhalb der imperialen Städte haben – von diesbezüglichen Kenntnissen ganz zu schweigen. Nur die geheimnisumwitterte Gemeinschaft der Kanaler – und ein paar wenige verschrobene Technosophen – wissen daher um die Natur und Bedeutung der gemeinhin nur als Bereghin bekannten Lebensformen, ohne die wohl keine der großen Städte mehr existieren würde. Der genaue Ursprung der Bereghin ist unbekannt, aber es gilt als gesichert, dass sie schon zu Beginn der Ära der Strahlenden Schönheit im gesamten Imperium verbreitet waren – und eine beliebte Theorie sieht in den Bereghin sogar eine der genialen Schöpfungen von Vater Athirat, dem legendären Omnisophen und Lehrer von Hiras II., der vor über elftausend Jahren gelebt haben soll! Heute jedenfalls bevölkern die Glaswürmer, wie sie von den Kanalern genannt werden, die Böden fast aller wichtigen Abwasserkanäle unter den Metropolen des Imperiums. Dort erschaffen sie einen dichten Teppich aus ihren miteinander verflochtenen durchscheinenden Körpern, von denen jeder einzelne zwar nur eine Elle lang und dünn wie ein Strohhalm ist, deren Gemeinschaften aber oft armdicke Gebilde von über einem Verst Länge sind, welche die ganze Breite eines Kanalbeckens abdecken. Man geht allgemein davon aus, dass diese „Teppiche“ für die Reinigung und Klärung der enormen Abwassermengen der Städte verantwortlich sind – nicht zuletzt, weil bis heute kein Kanaler und kein Technosoph irgendwo in den dunklen Labyrinthen unter den Straßen so etwas wie ein mechanisches oder alchemistisches Filtersystem oder Klärwerk finden konnte, die Abwässer aber dennoch auf ihrem Weg durch die Kanäle irgendwann wieder Trinkwasserqualität zu erreichen scheinen! Solange das System aber offenbar nur irgendwie funktioniert, gibt es vor allem für die Technosophen wenig Grund, sich mit belanglosen Einzelheiten wie seiner eigentlichen Funktionsweise zu befassen. Einigen Kanalern, denen die Angelegenheit buchstäblich näher liegt, sind die Bereghin jedoch schon etwas mehr Aufmerksamkeit wert. Diese Kanaler bilden eine lose Gruppierung, die sich die Pfleger nennen und als eine Art Gärtner oder Hirten der Bereghin verstehen: Sie befreien die Teppiche von zu schweren oder großen Abfällen, die sie beschädigen könnten. Sie legen Karten der größeren Teppiche und neu entstehender Kolonien der Bereghin an. Sie „verpflanzen“ sogar manchmal Abschnitte eines Teppichs in Kanäle mit ungewöhnlich starkem Verschmutzungsgrad – auch wenn dies nicht immer den erwarteten Erfolg hat. Die Pfleger haben sich auch näher mit der Natur der Bereghin befasst, nur um festzustellen, dass sie nicht in der Lage sind zu sagen, ob es sich bei diesen um Würmer, Pflanzen oder Pilze handelt. Sie sind sich allerdings sicher, dass nicht alle Bereghin mit den allseits bekannten „Glaswürmern“ identisch sind – jedenfalls nicht mehr! Ob es sich dabei um uralte Seitenzweige oder relativ junge Mutationen handelt, ist unter den Pflegern umstritten, aber zumindest folgende andere Arten von Bereghin wurden bisher identifiziert:
Wirkliche Sorgen machen einigen der Pfleger aber die sich häufenden Gerüchte über Bewohner der Slums und oberen Kanäle, in deren Körper angeblich nach ihrem Tode sich windende, an lebende Wollknäuel erinnernde Ansammlungen von Glaswürmern, also „normalen“ Bereghin, gefunden wurden. Es gibt keinerlei Überlieferungen von derartigen Fällen, so dass viele weiter von einem bloßen Gerücht ausgehen, aber manche fragen sich, ob hier nicht eine neue und gefährliche Mutation entstanden ist. Noch bizarrer – und daher gewiss bloße Schauergeschichten – sind nur die Erzählungen von Menschen, in deren Augen angeblich winzige Glaswürmer umher schwimmen sollen. Diese „Wurmgänger“ sollen nach einem langen Aufenthalt in den Kanälen mit seltsam veränderter Persönlichkeit wieder aufgetaucht sein und laut einiger Geschichten nun nach Blut oder Menschenfleisch gieren…
Stimmen aus dem Imperium
„…Kannibalen! Wären sie das doch bloß! Nein, ich habe selbst erlebt, wie sie wirklich vorgehen: erst kehrte mein Schwager mit diesen glasigen Augen heim. Dann drehten meine Nichte und meine Schwester durch und faselten davon, dass er nicht derselbe Familienvater und Ehemann sei, den sie kannten und der damals zur Aaljagd fortging. Ich Idiot lachte sie aus, schickte sie wieder heim. Und als ich sie Wochen später wieder auf dem Markt traf, da sah ich plötzlich dieses widerliche Wimmeln im Auge meiner kleinen Nichte – und sie lächelte mich an! Da rannte ich einfach weg, so schnell ich konnte. Ich renne immer noch. Was, woher ich komme? Aus Manto, hab ich doch gesagt…“
Nechraim der Säufer im Weinbrunnen, einer Taverne in Realgar
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