Schriften des Nordens
…warum nun im äußersten Westen des Nebelmeers, insbesondere in Nhastrand und Grimwerk, die personifizierte Darstellung des Todes als einer gottgleichen Entität so sehr viel verbreiteter ist als in allen übrigen bekannten Regionen des Nordens, konnte nicht abschließend geklärt werden. Allerdings spricht einiges für die Hypothese, nach welcher diese Figur ihren Ursprung in der Zeit des Bhaltarischen Reiches hat oder sogar auf noch älteren Überlieferungen aufbaut. Wir wissen wenig über die religiösen Gebräuche der Bhaltarer, aber die symbolische Sonderstellung der Farbe Rot und ihrer Verbindung mit Dingen wie Tod und Blut…
Ukrolf Ussenger, Volksglaube und Symbolik der westlichen Stämme
(teilweise verbranntes Exemplar)
In Grimwerk und den Dörfern am Ufer des Gerdersees existiert eine Tradition, von der die meisten Fremden und „Zugereisten“ – selbst wenn sie schon seit Jahrzehnten dort leben – nicht einmal den Namen kennen. Doch selbst Abkömmlinge der ältesten Familien sprechen nur ungern von der uralten Sitte der Todgaenger, auch wenn sie genau wissen, um was es sich dabei handelt. Gemeinhin sagt man, dass Todgaenger entweder sehr jung, sehr alt oder sehr krank sind: niemand sonst würde sich auf eine Pilgerreise begeben, an deren Ende der Tod wartet. Todgaenger sind allerdings nicht einfach nur Selbstmörder: ihre Absicht ist nicht einfach zu sterben, sondern buchstäblich den Tod selbst zu treffen und von ihm in sein Reich eingelassen zu werden! Einige erwarten davon Antworten auf all ihre Fragen, andere glauben sogar, dass sie so eine Art Erleuchtung und Unsterblichkeit erlangen könnten, indem sie zu treuen Dienern des Roten Gottes würden. Die Tatsache, dass ein großer Teil aller Todgaenger lange vor Erreichen ihres Ziels den Gefahren der langen Reise zum Opfer fällt, wird dabei als eine Art Prüfung angesehen, die schwermütige Heranwachsende, verwirrte Greise oder schlicht Größenwahnsinnige und liebeskranke Spinner zuverlässig aussiebt. In jeder Generation kennen jedoch nur eine Handvoll der wirklich Ältesten innerhalb der Familien den wirklichen Pilgerweg der Todgaenger. Dieser führt vom Gerdersee südwestlich quer durch Iallerbrund und folgt dabei fast immer einer der legendären Schwarzen Straßen. Wer diesen Abschnitt aber überstanden hat, für den folgt der gefährlichste und anstrengendste Teil der Reise: der Aufstieg in die Berge der Nedderfaellen. Dank der nahe gelegenen Eiswüste Mhanala sind hier auch schon niedrig gelegene Täler fast ganzjährig unter einer dichten Schneedecke begraben, während gerade die wenigen gut begehbaren Pässe nur allzu gern auch von Trollen und den blutrünstigen Adled frequentiert werden.
Schriften der Waismark
…berichte also den Brüdern und Schwestern, dass wir endlich einen Führer gefunden haben! Bald werden wir hoch in die Berge aufsteigen, hinter denen die heidnischen Riesen leben sollen. Die Truhe mit dem majestätischen Libram des Ordens ist unseren zwölf Trägern heiliger Segen statt goldschwere Last und wird gewisslich schon im nächsten Frühjahr das Herzstück unserer Mission bilden…
Brief XXXVII (Bruchstück 3 von 12), Versiegelte Sammlung prähäretischer Texte
Bibliothek des Hierophanten
Der lange Pilgerweg führt die Todgaenger schließlich in ein gewaltiges, fast kreisrundes steiniges Tal, welches so tief in das umliegende Gebirge eingeschnitten ist, dass große Bereiche des Talbodens nie vom Licht der Sonne getroffen werden. Inmitten dieses Tals aber erheben sich die steilen Wände eines hohen Felskegels, dessen Gipfel weit über alle an das Tal angrenzenden Berge hinausragt! Genau genommen ist allerdings der eigentliche Berggipfel überhaupt nicht sichtbar, denn die gesamte Bergspitze wird jahrein, jahraus von einer undurchdringlichen Krone tiefroter Wolken umhüllt, die einer Legende nach nur manchmal von seltsamen violetten Blitzen erhellt wird. Die steilen Flanken des Berges, der nur als „Berg des Roten Gottes“ bekannt ist, sind voller Geröll und rasiermesserscharfer Felskanten, denen viele Pilger beim Aufstieg, unmittelbar vor Vollendung ihrer Reise doch noch zum Opfer fallen. Noch mehr Todgaenger verunglücken zwar an diesem Berg, erleiden aber nur schwere Verletzungen oder brechen vor Erschöpfung zusammen. Diese haben dann oft das Glück, von einer geheimnisvollen Gruppe weißgewandeter Männer und Frauen gerettet zu werden. Nur in sehr wenigen Texten finden sie überhaupt Erwähnung, aber es wird stets berichtet, dass die „Diener des Berges“, wie sie hier und da genannt werden, einen besonders absonderlichen, kaum verständlichen Dialekt sprechen. Sie sollen in Not geratene Pilger um den Berg herum bis zum Südrand des Tals bringen, wo ein rauschender Bach durch eine Höhle nach Süden abfließt. Angeblich führt diese Höhle bis zur Behausung der Diener, welche direkt in den Fels am anderen Ende der Höhle geschlagen worden sein soll. Dort ergießt sich der Bach dann in einem viele hundert Faden tiefen Wasserfall direkt aus dem Berg heraus. Noch seltsamer ist aber die Beschreibung der äußeren Erscheinung des Felsenhauses der Diener: dieses soll unmittelbar über dem Wasserfall liegen und den Sockel einer riesenhaften Skulptur bilden, welche eine Gruppe von drei turmhohen Menschen darzustellen scheint. Alle drei Figuren sind jedoch so stark verwittert, dass kaum noch körperliche Details zu erkennen sind – mit Ausnahme der wie neu wirkenden Köpfe: jeder einzelne davon ist trotz seiner Größe voller filigraner Feinheiten und wirkt ebenso ausdrucksstark wie einzigartig. Wen oder was die Gruppe aus zwei Männern und einer Frau darstellt erwähnt kein bekannter Text, aber man sagt, dass die Diener die Figuren wie Götter verehren sollen. Das widerspricht allerdings der ebenso verbreiteten Behauptung, die „Diener des Berges“ wären eine uralte Sekte aus der Zeit vor dem Bhaltarischen Reich, welche den Roten Gott selbst anbeten würde. Obwohl sie in der Heilkunst sehr bewandert sein sollen und häufig als gelehrt und weise beschrieben werden, sind sich jedoch alle Quellen darin einig, dass die Diener wohl über keinerlei Kenntnisse im Lesen und Schreiben verfügen, sondern all ihr Wissen über lange Gesänge und Gedichte überliefern würden. Die bemerkenswerteste Erkenntnis der bekannten Texte zu diesem mysteriösen Kult ist aber wohl die Erklärung für das wahre Schicksal vieler Todgaenger: Denn auch wenn viele von ihnen schon der Strapazen und Gefahren der langen Reise zum Opfer fallen dürften, so verwunderte es doch manche Gelehrte, dass praktisch nie jemand von dieser Pilgerfahrt zurückgekehrt ist. Natürlich nimmt der Volksglaube an, dies sei schlicht auf das tatsächliche Erreichen und Betreten des Reichs des Todes zurückzuführen, doch gemäß einiger überlieferter Reiseberichte ist es nicht ganz so einfach. Zwar gab es wohl immer ein paar Todgaenger, welche den Berg erreichten, nur um für immer hinter dem Schleier der roten Wolken zu verschwinden, aber für die sogenannten Diener soll dieser Bereich des Gipfels nicht nur tabu sein, sie sollen auch denen, die sie retten konnten, dringend davon abraten, einen erneuten Versuch der Besteigung zu unternehmen! Stattdessen gelingt es den Dienern wohl, sehr viele der Patienten im Verlauf ihrer Genesung für ihren Kult der drei Götzen zu gewinnen, so dass sie einfach Teil der Gemeinschaft der Diener werden – sogar von Hochzeiten und Kindern ist in einigen Schriften die Rede. Viel mehr ist über diese Gemeinschaft, die buchstäblich hinter dem Berg lebt, nicht bekannt, auch wenn manche Texte noch ein geheimnisvolles Heiligtum in der Zuflucht der Diener erwähnen, welches nie berührt werden darf, aber dafür über und über mit Juwelen besetzt ist. In letzter Zeit haben sich jedoch in gewissen Kreisen von Grimwerk Gerüchte verbreitet, nach denen ein Tempel am Berg des Roten Gottes eine unbezahlbare Reliquie voller Edelsteine beherbergen soll – und nun beginnen sich auch Fremde für die Pilgerreise der Todgaenger zu interessieren…
Schriften des Imperiums
…erneute Analyse der erhaltenen Geheimdepeschen bestätigt leider unsere Befürchtungen: der Mangel an Fortschritten entlang der gesamten nördlichen Front mag sich bald als geringstes Problem dieses Feldzuges erweisen. So zerstritten die östlichen Splitternationen des einstigen Jharranidenreiches auch sein mögen: allem Anschein nach existieren in wenigstens fünf der bisher noch nicht in die neue Provinz Ost-Narika eingeführten Fürstentümer sogenannte „heilige Berge“, die fälschlicherweise bisher bloß als Gegenstände lokaler Mythologie missverstanden wurden. Genaue Untersuchungen ergaben, dass diese wie Vulkane erscheinenden Bergkegel möglicherweise nichts anderes sind als gewaltige technosophische Relikte des Reiches von Kantapur – oder gar einer älteren Zivilisation! Die Bergspitze wird jeweils von farbigen Wolkenschleiern umhüllt, die merkwürdige Ansammlungen von Türmen und Kuppeln verbergen. In wenigstens zwei Fällen (s. Schlacht bei Anakibar, Belagerung von Gandhobai) erwiesen sich diese Relikte zudem als voll funktionsfähig und unter der Kontrolle des Feindes! Es besteht außerdem die Möglichkeit, dass solche Relikte sogar im barbarischen Hinterland, d.h. der nördlichen Frontline existieren könnten, auch wenn eine Kontrolle der Barbaren darüber wohl ausgeschlossen werden kann. Angesichts des damit drohenden Risikos in Verbindung mit der Entwicklung entlang der Nordfront (s. vorherige Berichte von Kriegskonsul Lyrkuun) bittet der Generalstab hiermit um die ernsthafte Erwägung, den Plan (s. PROJEKT NACHTRUHE) des Hohen Beraters Ascalion noch einmal mit Wohlwollen und weiser Voraussicht zu studieren…
Brief von Generalstabschef Kriegskonsul Tamastes Vhaziin and Imperator Savod I., 59. Woche der Nordwest-Offensive, 2290. Jahr der Ära des Goldenen Rates
Geheimarchiv des Copal, Ebene der Schwarzen Schlüssel
Mögliche Aspekte
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