Die Fragmente

Malmsturm – Die Fragmente: Das Tal des Zornigen Sängers

 

Schriften der Waismark

…berichtete Rumio Gudanes, Magister 3. Grades und Leiter der Expedition, dass sie in diesem Tal Reste von etwas fanden, das sie als primitiven Tagebau einer inzwischen untergegangenen Zivilisation deuteten, welcher nun größtenteils wieder aufgefüllt oder verschüttet worden war. Die weit interessantere „schwarze Wand“ sollte eine größere und bessere ausgerüstete Expedition, die wohl noch vor dem nächsten Vollmond im Tal ankommen dürfte, untersuchen. Zu Anmerkungen seines Adjudanten, der in dem Geröll am Boden des Tagebaus Spuren einer planmäßigen Sprengung zu erkennen glaubte, meinte Gudanes…

– Übersetzung des lesbaren Teils einer frühkolonialen Schriftrolle aus dem Geheimarchiv des Hierophanten


Die meisten Kinder der Waismark kennen das Märchen vom bösen Heckenwolf, der wegen seiner Untaten in eine Höhle eingesperrt wurde und den Silbermond von dort aus so bitterlich anheult, dass jedem das Gehirn aus den Ohren sickert, der dieses Gejaule mit anhören muss. Das von den unzähligen Märchen der Mark ausgerechnet dieses zu denen gehört, die einen wahren Kern haben, vermutet so gut wie keiner. Tatsächlich aber basiert die Geschichte auf einem unheimlichen Phänomen, dem man in einem abgelegenen Tal in den südlichen Ausläufern der Naedderfaellen begegnen kann.Weit jenseits des schwer passierbaren Barbrach-Gletschers kann man einen ausgedehnten staubigen Talkessel bar jeder Vegetation finden. An dessen tiefstem Punkt liegt eine kreisförmige Senke, die mit ihren abgestuften Flanken vage an eines der alten Amphitheaters aus imperialer Zeit erinnert. Dabei sind Radius und Tiefe dieser Senke mit rund sechzig Schritt nahezu gleich. Obwohl das Gebilde sehr künstlich wirkt, finden sich dort nirgends Spuren menschlicher Bearbeitung – ebensowenig wie etwa einen Verst weiter nördlich am Rand des umliegenden Talkessels, wo sich sich eine absolut gerade, senkrechte Wand erhebt, die in unregelmäßigen Abständen mit trichterförmigen „Dellen“ durchsetzt ist, welche zwischen einer und vier Ellen Durchmesser aufweisen.

Vor Jahrhunderten muss einmal eine Art schwarzer Glasschicht die gesamte Wand bedeckt haben. Von dieser sind aber nur noch verschwindend wenige Flecken übrig. Dies allein würde den Talkessel schon bemerkenswert machen. Erschreckend ist aber, dass der Aufenthalt im Tal zu bestimmten Zeiten absolut tödlich ist. Jede Nacht, wenn der Silbermond im Zenith seiner Bahn steht, erhebt sich aus den Trichtern in der Wand ein infernalisches, unirdisches Kreischen, wie man es von keinem irdischen Wesen kennt. Noch einige Verst vom Talkessel entfernt ist die Lautstärke des Kreischens ohrenbetäubend laut. Im Tal jedoch entfaltet sich erst die volle, teuflische Kraft des Geräusches. Hier beginnt die Luft selbst zu flimmern und was immer an Lebewesen sich im Talkessel befindet, stirbt einen grauenhaften Tod. Das Kreischen lässt Knochen splittern, Adern bersten und Organe zerreißen. Leichen, die längere Zeit im Tal liegen, verwandeln sich durch den nächtlichen Lärm langsam in einen breiartigen Schmierfilm.
Die Einheimischen gehen davon aus, dass die Wand keinesfalls irdischen Ursprungs sein kann und vermuten, dass irgend ein Teufel oder eine heidnische Gottheit sie errichtet haben müsse. Im Laufe der letzten Jahrhunderte gab es mehrere Versuche, das dämonische Kreischen verstummen zu lassen – die Einheimischen versuchten alles, vom Zumauern der Trichter bis hin zu heiligen Stelen am Rande des Talkessels. Nichts nutzte etwas. Heute wagt sich fast niemand mehr in die Nähe des Talkessels. Niemand bis auf die Angehörigen eines kleinen Kultes, der sich im nahegelegenen Bergdorf Zirbenjoch etabliert hat. Die Kultmitglieder glauben an eine alte Legende, die besagt, das ein Mondgott, der vor der Ankunft der trisantischen Götter hier geherrscht habe, einstmals eine dämonische Entität, die nur „Der Zornige Sänger“ genannt wird, hinter der Wand eingekerkert. Diese wolfsartige Kreatur habe mit ihrem Heulen unsägliches Leid über die Schöpfung gebracht, bis die Götter sie fassen und einmauern konnten. Heute gerät die Kreatur, so die Legende, immer dann in Zorn, wenn sie ihren Erzfeind, den Mond direkt über dem Tal erblickt. Dann stimmt sie ihr tödliches Heulen an.
Die Kultisten, deren Gemeinschaft keine feste Rangordnung kennt, bringen der Kreatur in regelmäßigen Abständen Opfer in Form von Feldfrüchten und Kälbchen dar. Menschenopfer lehnen die Kultisten eigentlich ab. Dann und wann werden aber Mörder, Vergewaltiger und Vogelfreie gefesselt ins Tal geworfen, damit das Kreischen des Zornigen Sängers ihrem Leben ein Ende setzt. Der Kult opfert nicht, um den Zornigen Sänger zu verehren, sondern um ihn zu besänftigen. Ein Wesen, dass so tödlich ist, dass sein Schrei durch Felswände hindurch Leben auslöschen kann, darf niemals frei auf Erden wandeln! Die Zirbenjocher sehen sich selbst daher keinesfalls als schlechte Gläubige der trisantischen Kirche oder gar als Häretiker. Sie verehren die drei Götter des „rechten Glaubens“ ganz so, wie es schicklich ist. Die Opferungen an den Zornigen Sänger sind eine grausame Pflicht, welche die Bewohner Zirbenjochs zu erfüllen haben um Schlimmeres zu verhindern. Verstanden wird das von Fremden kaum. Deswegen verlieren die Kultisten über ihre Opferriten und das nächtliche Kreischen aus den Bergen nie ein Wort – egal, wie intensiv man sie danach befragt. Unlängst haben Vertreter der Kirche Wind von der kleinen Kultgemeinschaft bekommen und schätzen die Sache auf ihre Art ein (ohne tiefergehende Informationen über die örtlichen Gegebenheiten zu haben). Für sie ist der Kult einfach ein Ausbruch heidnischen Aberglaubens, wie er besonders in abgelegenen Gebieten immer mal wieder auftritt. Vor Wochen hat man eine kleine Truppe aus Zaetoren nach Zirbenjoch gesandt, um sich der Sache anzunehmen. Die Sache entwickelte sich jedoch ungewöhnlich. Was die Kirchenfürsten nicht wissen, ist das die Zaetoren unter dem erfahrenen Bruder Baertis sich nach näheren Untersuchungen entschlossen, den Kultisten zu helfen statt sie auszurotten. Vor Ort begriff Baertis, warum die Zirbenjocher so handelten wie sie es taten. Schnell hatte er den Entschluss gefasst, dem Spuk mit einem der mächtigsten Exorzismen, die der trisantische Ritus kennt, ein Ende zu bereiten. Baertris und seine Zaetorenbrüder machten sich todesverachtend zum Talkessel auf. Dort wurden sie während des Austreibungsrituals vom tödlichen kreischen überrascht und fielen ihm samt und sonders zum Opfer. Die Zirbenjocher sind nun so demoralisiert, dass sie nicht einmal die Leichen der heiligen Männer geborgen haben. Aber es könnte noch weit fataler kommen. Irgendwann werden andere Zaetoren nach dem Verbleib von Baertris und seinen Mittstreitern forschen. Wenn diese nicht so weise und offengeistig sind, wie Baertris es war, hat das Dorf Zirbenjoch ein gewaltiges Problem.

Aspekte:

  • Todesschreie

  • Nur der halbe Kern

  • Ehrfurcht oder Angst?

  • Zweifach verdammt

 

Kommentar verfassen