Stimmen aus dem Norden
„…wir verkrochen uns vor dem Unwetter im Schatten eines riesigen Findlings – da sah ich, wie alle Blitze hinter derselben nahen Anhöhe einschlugen! Ich muss besoffen gewesen sein, denn ich kletterte auf einmal wirklich auf diesen Fels, um sehen zu können, wo genau die Blitze runterkamen – was mir leider auch gelang: hinter der Anhöhe standen sieben große Gestalten in hellen Kapuzenumhängen um eine schwarze Scheibe mit glühenden Inschriften herum! Hinter den Gestalten schossen die Blitze in den Boden, doch da – ich schwöre es – hob eine ihr Haupt und schaute direkt in meine Richtung! Später sagte mein Bruder, ich wäre bewusstlos vom Felsen in den Schlamm gestürzt und erst am Morgen wieder erwacht. Natürlich glaubte danach niemand meine Geschichte, denn als wir später die besagte Anhöhe überquerten, da liefen dort nur einige Erdfurchen im Boden zusammen. Aber seit dieser Nacht habe ich zu jedem Neumond denselben Alptraum – und ich bete zu allen Göttern, dass ich auch weiterhin stets daraus erwachen werde, bevor ich erkennen kann, was mich unter der Kapuze ansah…“
Namenloser Kunde von Ijulpo dem Traumkrämer,
einem uralten Ladchoum mit Laden in Svinsager
Ruinen, verfallene Standbilder und seltsame Landschaftsformen, welche den Betrachter an überwucherte Tempelreste oder von Erde bedeckte Pyramiden denken lassen, gibt es an vielen entlegenen Orten des Nordens, aber das Narbenland verdient eine besondere Erwähnung. In dieser fast baumlosen Landschaft östlich von Nhastrand und nördlich der Insel Balta existiert ein verwirrendes Geflecht aus breiten Hohlwegen und schmalen Pfaden, wobei letztere von einem graugrünen harten Stein bedeckt werden, dem sie den Namen Hartwege verdanken. Dieser eigentümliche Stein hält Frost und Unkraut stand und scheint in langen Windungen regelrecht durch die Landschaft zu fließen – so wie es von den geschmolzenen Felsen aus Feuerbergen wie dem Andrimir berichtet wird –, liegt aber stets kalt und starr am Boden und „strömt“ auch über Anhöhen hinweg, wobei im Narbenland nicht einmal heiße Quellen, geschweige denn Feuerberge zu finden sind. Folgt man den Hartwegen, so gestaltet sich die Reise allerdings oft recht kurz, denn die „Steinbäche“ wie sie auch genannt werden, reichen meist nur wenige hundert Schritt weit bevor sie urplötzlich enden – manchmal am Ufer eines Tümpels, manchmal vor einem riesigen, tief im Boden eingesackten Felsen, manchmal ganz ohne erkennbaren Grund direkt am Rand einer großen Grasfläche. In einigen Fällen findet sich ganz in der Nähe eine Art Fortsetzung des Hartweges, aber ebenso häufig kann der nächste Hartweg eine ganze Tagesreise auf sich warten lassen. Seyder und Galder meiden das Narbenland, da sie insbesondere in der Nähe der Hartwege oft die Präsenz von Wesenheiten spüren, die sie als „zerrissene“ oder „verrückte“ Geister bezeichnen. Gelehrte, die in der Kunst der Runenzauberei geschult sind, scheinen kaum derartige Probleme zu haben, aber sie weigern sich oft dennoch, auch nur in die Nähe des Narbenlandes zu kommen! Der Grund für diese Furcht liegt in den sogenannten Mondsiegeln: weitläufigen, teilweise labyrinthartigen Strukturen, die aus Hohlwegen, tiefen Gräben oder breiten Furchen bestehen und sich über viele Dutzend Verst erstrecken können. Die Gelehrte sagen, der Name Mondsiegel stamme daher, dass nur bei einem Blick vom Himmel herab sichtbar werde, wie die lange Einschnitte in der Landschaft ganze Bilder und sogar komplizierte alte Runen formen. Eben diese Runen, so die Gelehrten, sollen aber in einigen Fällen so gut erhalten sein, dass von ihnen immer noch verschiedene, schwer einzuschätzende magische Wirkungen auf das gesamte Narbenland ausgehen. Viele Gelehrte gehen dabei zwar von vorherrschend stabilisierenden Effekten aus – was auch die angebliche Seltenheit von Malmstürmen in der Gegend erklären könnte –, aber sie glauben gerade deshalb, in den „Straßenwächtern“, den kleinen Menhiren überall im Narbenland, schlicht die versteinerten Reste allzu übermütiger Zauberer zu erkennen! Alle Herden und großen Raubtiere scheinen ähnliche Vorbehalte gegenüber dieser Region zu haben, um welche sie allesamt einen weiten Bogen auf ihren Wanderungen machen, aber selbst das genügt nicht, um die Gruppen von Abenteurern und Glücksrittern abzuschrecken, die regelmäßig ins Narbenland aufbrechen. Meist lockt sie eine legendäre Nebenwirkung der „stabilisierenden Effekte“ dieser Landschaft, in der es vor gut erhaltenen kostbaren und mächtigen Relikten des Bhaltarischen Reiches nur so wimmeln soll. Aber man spricht auch von rätselhaften Gruppen vermummter Gestalten, welche Richtung Narbenland reisen, um dort angeblich an geheimen Orten grausame Rituale zu vollziehen und die Furchen gewisser Mondsiegel mit Schläuchen voller Blut zu füllen…
Schriften des Nordens
…genauere Untersuchungen sind natürlich erforderlich, aber zu unserer Verblüffung fanden sich nicht nur reichlich schriftliche Quellen, sondern auch geistig und körperlich gesunde Augenzeugen, welche von den berüchtigten translokalen Phänomenen des Narbenlandes berichteten. Diese Schilderungen beschreiben in guter Übereinstimmung , wie Reisende entlang der Hartwege oder Mondsiegel plötzlich vor den Augen ihrer Gefährten verschwinden – meist kurz vor dem scheinbaren Ende eines Weges – nur um viele Stunden oder Tage später woanders zu aufzutauchen. Die so entschwundenen erzählen dann oft von gefährlichen Abenteuern in fremdartigen Landschaften, wobei so verschwundene Gruppen dort manchmal auch einige Mitglieder verlieren, und manche auch vollständig und spurlos verloren gehen. Es gibt außerdem interessante Häufungen bestimmter Landschaftsformen und Orte in all diesen Geschichten: leere Ruinenstädte aus dunklem Stein unter einer mächtigen Eiskuppel eingeschlossen, auf der Oberseite riesiger Brücken oder Aquädukte verlaufende Straßen nur eine Handbreite unter dem Wasserspiegel eines warmen Ozeans, von endlosen Kristallröhren durchzogene Staubwüsten – oder gar ein einsam zwischen den Wolken schwebender verwilderter Garten tödlicher Pflanzen. Ganz anders – und nicht sehr glaubwürdig – sind nur zwei Berichte über Reisende, die erst nach vielen Monaten oder Jahren wieder erschienen, von Traumreisen durch ein blühendes Reich entlang der Ufer des Nebelmeeres faselten und angeblich plötzlich fließend Bhaltaran beherrschten: wahrscheinlich wollten hier nur einige Geschichtenerzähler ein wenig Aufmerksamkeit erlangen…
Kamkar und Rewor Marrsen,
aus einem Brief an den Kontorhof der Liga in Faensal
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