Schriften aus der Waismark
Wie erwähnt, finden sich in den genannten Sammlungen einige alte Kartenwerke, in denen Darstellungen eines großen Flusses im Gebiet des sogenannten Leradin auftauchen. Dieser geheimnisvolle Fluss, der oft als Fluss des Kaisers bezeichnet wird, ist jedoch sicherlich als reines Mythengebilde anzusehen. Erkennbar wird dies schon an dem unnatürlich geradlinigen Verlauf, mit dem der auch Phraeoch genannte Fluss stets dargestellt wird, dergleichen sich aber nie bei echten Flussläufen oder ähnlichen Wasserwegen beobachten lässt.
Ulrimaerd von Ankomahr, Abhandlung zu Qualität und Gehalt antiker und zeitgenössischer Karten und Reisebeschreibungen
Obwohl die Waismark ein überwiegend fruchtbares Land voll goldener Felder, grüner Hügel, dichter Wälder und saftiger Wiesen ist, gibt es doch nicht einen einzigen wirklichen Fluss auf der gesamten Ibernischen Halbinsel. Das Schmelzwasser von Schnee und Gletscher der Askarpen strömt größtenteils über die Südseite der Berge direkt ins Meer, so dass es in den besiedelten Gebieten im Norden nur unzählige kleine Bäche und Rinnsale gibt, deren Pegelstände vor allem vom Regen abhängen, und die sich nur nach besonders schneereichen Wintern für wenige Tage im Frühling in reißende Ströme verwandeln. Ein wenig weiter östlich erzählen allerdings manche Anwohner des Slyddersees von einem gewaltigen Fluss, dessen Mündung am Nordufer, verborgen im Schatten der mächtigen Bäume des Laredin liegen soll! Der Strom soll den Namen Phraeoch tragen und der wahre Kern hinter den Gerüchten über einen unterirdisch in den Slyddersee mündenden Fluss sein. Die eigenbrötlerischen Hirten in Braewelland behaupten, der seltsame Name dieses Wasserlaufs gehe auf eine große Expedition des Imperiums zurück, die kurz nach der Entdeckung dieser Weltgegend und noch vor der Ankunft der ersten Kolonisten unternommen wurde.
Stimmen aus der Waismark
„…und er flüsterte etwas über diese Kinderinsel: Nur Fremden wie uns würden sie die Geschichte von den toten Kindern erzählen. In Wahrheit würden die Mitglieder gewisser Familien dort seit Urzeiten Orgien mit heidnischen Dämonen feiern und nicht-menschliche Bastarde zeugen!“
Kirol Vaerd, Leibwächter, zu seinem Klienten, dem jungen Laektor Brenven, kurz vor ihrem Verschwinden in Braewelland
Der Anführer dieser Expedition soll ein junger Gelehrter namens Phraeoch gewesen sein, der die ungewöhnliche Tier- und Pflanzenwelt entlang des Flusses erforschen wollte. Ihm war ein kleines Kontingent imperialer Legionäre unterstellt worden und er reiste in Begleitung seiner Verlobten, die selbst Mitglied der sagenhaften Gilde der Technosophen war, deren Name allerdings nicht überliefert wurde. Der Legende nach reiste die Expedition mit drei „magischen Booten“ sieben Tage lang flussaufwärts. Während dieser Zeit studierte Phraeoch eifrig die Flora und Fauna entlang des Ufers, wobei ihm wohl vor allem die Vielzahl übergroßer Vertreter von eigentlich längst bekannten Arten auffiel. Seine Verlobte hingegen wurde während der Reise immer stiller und verbrachte endlich jeden wachen Moment damit, den genauen Verlauf des Flusses sowie die Form und Beschaffenheit des Flussbettes auszumessen und zu katalogisieren. Die Geschichte erzählt weiter, dass die Expedition zu Beginn des achten Tages in der Mitte des Flusses auf ein einsames kleines Ruderboot traf, in dem ein ärmlich erscheinender Mann mit einem breiten Schlapphut saß und angelte. Er war unbewaffnet, doch Phraeoch traute ihm nicht, aber da seine Verlobte unbedingt mit dem Mann reden wollte, wurde er schließlich an Bord von Phraeochs Boot gebeten. Der Mann teilte seinen reichen Fang mit der Expedition und speiste mit Phraeoch und seiner Verlobten. Die verkündete dabei voller Begeisterung, dass sie nun sicher sei, dass der sogenannte Fluss in Wahrheit das verwilderte Relikt eines großen, ungeheuer alten künstlichen Kanals sei, dessen Beschaffenheit auf eine Errichtung in den Tagen der sogenannten Polyarchen oder sogar durch das märchenhafte Reich von Kantapur schliessen lasse! Da wurde der Blick aus den alten Augen des Anglers sehr traurig. Er schaute Phraeoch und seine Verlobte an und sie spürten, dass nach dem Verzehr des Fisches aus dem Fluss ihre Glieder so schwer geworden waren, dass sie zu kaum einer Bewegung fähig waren – und als sie sich umsahen, da bemerkten sie auch, dass all ihr Gefolge in einen dämmrigen Schlaf gefallen war. Der Alte erklärte, dass er sie mit diesem Wissen nicht heim ins Imperium reisen lassen könne und sie somit wohl alle hier sterben müssten. Aber Phraeoch bot sich selbst als Geisel an: er würde im Wald bei dem Fischer bleiben und dafür würden seine Verlobte und sein Gefolge schwören, niemandem im Imperium von der Expedition zu erzählen. Der Angler stimmte aber erst zu, nachdem er auch vier Mitglieder des Gefolges als Geiseln auswählen durfte – und wie durch Zauberhand wählte er so, dass alle übrigen Mitglieder von Phraeochs Gefolge zumindest mit einer der Geiseln durch Blut oder Lebensschuld verbunden waren! Dann gab der Angler allen ein Gegenmittel zu dem Gift im Fisch, das sie betäubt hatte, und erklärte, er würde die Geiseln für alle Zukunft zu Wächtern von Wald und Fluss machen, aber es würde ihnen von Zeit zu Zeit erlaubt sein, die Wildnis zu verlassen – und sollten ihre Familien und Freunde dann nicht allzu fern sein, so dürften sie diese besuchen und ihnen beiwohnen. So wendete der Rest von Phraeochs Expedition die magischen Boote um und fuhr flussabwärts zurück zu den Wassern des Slyddersees. Dort versenkten sie die Boote und ließen sich als einfache Fischer und Hirten nieder ohne jemals wieder ins Imperium heimzukehren…
Stimmen aus der Waismark
„…nein, das wichtigste an der Geschichte fehlt doch: meine Großtante hat uns stets erzählt, dass die Boote der übrig gebliebenen Mitglieder der Expedition direkt in den Hafen von Warmund einliefen – dabei wurde Warmund erst in den Blutigen Jahren, wenigstens dreihundert Jahre nach der Entdeckung Iberniens gegründet!“
Teffen Flinders, Bootsbauer aus Warmund
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