Die Fragmente

Malmsturm – Die Fragmente: Die Male der Gerechten

Schriften des Nordens

Auch jenseits der verklärenden Legenden und Sagen ergibt sich für das Bhaltarische Reich – zumindest in seinen Anfängen – ein außerordentlich stabiles Bild von Verlässlichkeit und gegenseitigem Respekt der Bürger. Bis heute sind jedoch kaum nennenswerte Texte zur allgemeinen Gesetzgebung dieser Zeit erhalten geblieben, was zu solchen Auswüchsen wie Holgbards These von der „Anarchie der Aufrechten“ geführt hat. Ich glaube jedoch im weiteren Verlauf dieser Abhandlung zeigen zu können, dass es gewisse etablierte Methoden zur Einhaltung von Recht und Ordnung gegeben haben muss, wobei ich auch einige wahrscheinliche Kandidaten für solche Methoden vorstellen möchte…

Tylvorg Arnsen der Jüngere, Traktat über die Rolle des Verbrechens in einem goldenen Zeitalter

 

 

Besonders entlang der Ufer des Nebelmeeres, in den fünf großen Städten und südlich des Amswardsees begegnet man immer wieder Männern und Frauen, deren Haut mit breiten dunklen Zeichen verziert ist, welche an primitive Runen erinnern und meist im Gesicht, am Hals, den Unterarmen oder auf einem rasierten Teil der Kopfhaut angebracht wurden. Ein flüchtiger Beobachter mag diese Symbole zwar leicht mit den traditionellen Tätowierungen gewisser Stämme verwechseln, aber bei näherer Betrachtung ist nicht zu übersehen, dass die entsprechende Farbe hier nicht in die Haut gestochen, sondern als dicke Schicht aufgetragen wurde. Das Ergebnis wirkt wie eine Art Lack oder Wachs auf der Haut, ist aber stets elastisch und frei von Rissen. Vor allem unter den Thuul soll es vor alten Rezepten für diese Farbe nur so wimmeln, aber gemein ist diesen nur, dass sie alle gewisse Baumharze aus dem Hodmimholt benötigen. Eigentlich geht es bei dieser besonderen Kosmetik aber darum, eine legendäre Sitte aus den frühen Tagen des Bhaltarischen Reiches nachzuahmen: damals, so wird erzählt, trugen alle erwachsenen Männer und Frauen des Reiches ein Mal, welches sie stets ermahnen sollte, ihr Leben durch Mut und Wahrhaftigkeit bestimmen zu lassen, auf dass die noch Ungeboren einst mit Stolz ihrer Ahnen gedenken mögen. Der Sage nach benötigten die meisten der alten Bhaltarer derartige Ermahnungen natürlich nicht, aber wenn es doch einmal zu einer wirklich ehrlosen und ungesühnten Tat kam, so sollen die Male selbst dafür gesorgt haben, dass dem Übeltäter ein angemessen leidvolles Schicksal widerfuhr! Diese Legende führt nun noch Jahrtausende nach dem Untergang des Bhaltarischen Reiches dazu, dass an vielen Orten zumindest die Kinder und Alten, aber auch die weniger welterfahrenen Erwachsen und manch unbeirrbare Traditionalisten den zeitgenössischen Trägern solcher Male mit offenen Armen und unbeirrtem Vertrauen begegnen. Wie kaum anders zu erwarten führte dies irgendwann zu ständig zunehmenden Berichten über dreiste Betrugsfälle, die unter dem Schutz entsprechend nachgebildeter Male durchgeführt wurden. Seltsamerweise hört man aber auch immer wieder von unerklärlichen lokalen Unruhen und Lynchjustiz, deren Opfer Träger solcher „Male der Gerechten“ waren – bei denen genauere Untersuchungen ihrer Vergangenheit aber stets auch diverse zuvor unentdeckte Verbrechen dieser „Gerechten“ offenbaren! Gemeinhin sehen viele in diesen Berichten nur die verständliche Vergeltung der Opfer eines frisch entlarvten Betrügers, aber bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass nahezu alle verbrecherischen Malsträger, die solch einer Selbstjustiz zum Opfer fallen, den Ort des Geschehens noch nie zuvor besucht haben! Allem Anschein nach beschließen in diesen Fällen die friedlichen Einwohner kleiner Dörfer, Marktflecken und Hofschaften spontan, einen ihnen völlig unbekannten Besucher, der keine erkennbare Bedrohung verkörpert, mit vereinten Kräften gefangen zu setzen und anschließend ohne irgend eine Form von Prozess hinzurichten – manchmal auf extrem ausgefallene oder grausame Weise. Natürlich mangelt es auch nicht an mehr oder minder originellen Erklärungen für diese Ereignisse, aber besonders beliebt ist die Vorstellung, dass unter all den unzähligen Hausrezepten und Anleitungen zur Anfertigung „original“ Bhaltarischer Ehrenmale, einige wirklich echt sind – auch bei denen, welche dann von reisenden Betrügern und Räubern aus bloßer Heimtücke genutzt werden! Diese aber ereilt dann natürlich früher oder später – wie in den Sagen – das verdient unglückliche Schicksal…

 

 

Stimmen des Nordens

„…mit Schicksal hat das alles nichts zu tun – aber durchaus mit verdienter Strafe! Ein Kerl aus meiner alten Bande hat sich nach unserer Trennung nämlich auch an dieser Nummer mit den Gesichtsmalen versucht – wohl auch im ersten Jahr verdammt erfolgreich. Aber im nächsten Spätsommer hörte ich dann in Nidbaerg, dass ihn ein Mob in einem Bergkaff in den Maelaren – wo ihn keiner kannte – über 40 Tage in einem Holzkäfig gefangen setzte und langsam verhungern ließ: sie gaben ihm sogar Gras und Laub zu essen, um die Qualen zu verlängern! Noch später erfuhr ich, dass er im Vorjahr einige reisende Bauern, deren Dorf keine gute Ernte gehabt hatte, um das Geld betrogen hatte, mit dem diese dringend nötige Wintervorräte kaufen wollten, woraufhin nur drei von vier Dörflern den Winter überlebten. Aber in dem Kaff, wo er starb, hatte vorher niemand was von dieser Sache gewusst! Spätestens da wurde ich verdammt neugierig und begann, mich überall nach solchen Geschichten umzuhören. Und so erfuhr ich endlich von diesem freundlichen alten Kräuterweiblein, das an den merkwürdigsten Orten auftaucht und außer den üblichen Tees und Tinkturen auch ein Rezept für die garantiert echte Farbe für Bhaltarische Ehrenmale anbietet. Vielleicht sind es auch mehrere solcher Käuterhexen. Jedenfalls traf ich gestern endlich einen, der selbst an dieser Hinrichtung in den Bergen teilgenommen hatte – und bevor ich seinen besoffenen Schädel einschlug, das jeder im Dorf, der die Male erblickte, dort von allen Verbrechen und Betrügereien meines alten Kumpans lesen konnte, auch wenn die meisten Dörfler nie das Lesen erlernt hatten! Die Male forderten sie auf, den Fremden endlich zu bestrafen und sandten den Dörflern sogar Träume über dessen Untaten – Alpträume, die erst mit seinem Tod völlig verschwanden…“

Irdlaff die Keule in seiner letzten Nacht im Saustall, einem Hurenhaus in Svinsager

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